Vom 12. bis 16.Oktober 2022 begrüßten wir 75 Teilnehmer*innen aus zwanzig europäischen Ländern, aus unterschiedlichsten europäischen Kontexten und mit vielfältigen religiösen und weltanschaulichen Zugehörigkeiten zum Herbstseminar 2022, dem ersten Seminar des neuen Programmjahres, in Bonn.
Unter dem Titel “Towards European Diversity Competence. Tackling Questions of Difference and Cohesion in the Context of Religions, Worldviews, and Society” lag der Fokus des Seminars auf den Potentialen und Chancen einer pluralen und sich zunehmend pluralisierenden europäischen Gesellschaft und auf der Frage, wie unter Anerkennung und Wertschätzung von religiösen, weltanschaulichen und vielfältigen gesellschaftlichen Differenzen neue Formen von gesellschaftlichem Zusammenhalt entwickelt werden können. Unterschiedliche Formate und Methoden – Workshops, Panel-Diskussion, Reflexionsformate, die religiös-weltanschauliche Praxis und Morning Spaces – ermöglichten ein intensives gemeinsames Arbeiten zu den zentralen Fragestellungen des Seminars sowie Kennenlernen und Begegnung der Teilnehmer*innen untereinander.
Während fünf intensiver Tage des Arbeitens und der Diskussionen, der Begegnungen und des Austauschs fanden die diesjährigen Teilnehmer*innen bereits jetzt als Gruppe zusammen, begannen Beziehungen und Netzwerke aufzubauen, Ziele zu formulieren und eine Agenda für ihre gemeinsame Arbeit und ihr gemeinsames Handeln in diesem Programmjahr festzulegen.
Am Nachmittag des 12. Oktober 2022 begrüßten die Projektreferent*innen Rachel de Boor und Henri Vogel die Teilnehmer*innen mit einführenden Worten zum Dialogperspektiven-Programm im Allgemeinen und den Fragestellungen dieses Seminars im Besonderen. Programmleiterin Johanna Korneli hob ihn ihrer Begrüßung die aktuelle Notwendigkeit von Pluralitäts- und Diversitätskompetenzen hervor – insbesondere angesichts des Aufschwungs der Neuen Rechten in Europa, der Bedrohung von Menschen, die als „anders“ markiert werden und auch mit Blick auf die mehr und mehr abgeschotteten europäischen Außengrenzen. Dem allen gelte es solidarisches Handeln entgegenzusetzen und die Chancen und Möglichkeiten von europäischer Pluralität ernstzunehmen.
Am Abend fand das erste DialogueCafé statt. Unter Anleitung von Team Mitglied Kristina Schneider und Mitwirkung der Teammitglieder Maximiliane Linde und İrem Çörekçi vertieften sich die Teilnehmer*innen in wechselnden Gruppenzusammenhängen nacheinander an sieben verschiedenen Tischen in die konzeptionellen Grundannahmen der Dialogperspektiven und einige vorbereitende Fragestellungen für das beginnende Programmjahr. Vor dem Hintergrund, z.B. welche Kompetenzen und Fähigkeit es für gelungenen Dialog braucht oder ihrer eigenen Verortung in Europa konnten die Teilnehmer*innen zum ersten Mal tiefer ins Gespräch zu kommen und sich gegenseitig besser kennenlernen.
Der zweite Seminartag (13. Oktober 2022) begann mit der Vorbereitung der religiös-weltanschaulichen Praxis, einem zentralen Bestandteil des Seminars. Die Teilnehmer*innen waren eingeladen, sich an der Vorbereitung des Jum’ah-Gebets, von Kabbalat Shabbat und der Havdallah, des alevitischen Inputs und des christlichen ökumenischen Gottesdienstes zu beteiligen. Für die Teilnehmer*innen, die nicht in diesen Gruppen involviert waren, bestand das Angebot – gemeinsam mit Henri Vogel und Maximiliane Linde –Möglichkeiten einer weltanschaulichen Praxis auszuloten.
Anschließend erarbeiteten sich die Teilnehmer*innen gemeinsam mit Kristina Schneider einige Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen an das Seminar anhand der folgenden Leitfragen: „Um mich an diesem Ort und in der Gruppe wohl zu fühlen, brauche ich…“, „Für mich ist es wichtig, über… zu sprechen“ und „Ich gehe mit einem guten Gefühl aus diesem Seminar, wenn…“. Die anonymisierten Antworten werden dem Dialogperspektiven-Team als erste Orientierung zur Planung der kommenden Seminare dienen. Zugleich bot sich die Gelegenheit, als Gruppe gemeinsam die Vielfalt der Bedürfnisse und Erwartungen zusammenzutragen und wahrzunehmen.
Am Nachmittag begannen die Workshops, die den Teilnehmer*innen angeleitet von fünf Expert*innen Gelegenheit zu intensivem Lernen und Austausch in einer vertraut werdenden kleineren Gruppe gaben und jeweils einen Aspekt des Seminarthemas vertieften. In diesem Jahr konnten wir Prof. Dr. Frederek Musall (Workshop: Pluralism beyond the Phrase: Challenges & Chances of Narrative Multidirectionality), Santhi Corcoran (Workshop: Exploring Culture, Diversity, and Intercultural Competence in changing times in Europe: Complexities, Challenges and Potentials), Dr. Cátia Severino (Workshop: The Language Barrier: Overcoming Social and Ethnic Linguistic Variation), Whitney Nosakhare (Workshop: A godless state?) und Dr. Alexander Graeff (Workshop: „Classism“ in intersectional dialogue) gewinnen. Ebenfalls vorgesehen war Stephanie Kuhnen (Workshop: Re-connecting society, re-organising solidarity, resisting complicity), die Aufgrund von Krankheit kurzfristig absagen musste.
Im Anschluss an die erste Workshop-Session wurden die Teilnehmer*innen von Daniel Weber von unserer gastgebenden Institution, dem Gustav-Stresemann-Institut e.V. willkommen geheißen und kurz mit der Geschichte des Hauses und dessen Verständnis als Lern- und Austauschortes vertraut gemacht.
Der Donnerstagabend stand dann ganz im Zeichen der Paneldiskussion „Diversity Competence – (At least) six perspectives on central fields of society“ bei der Maximiliane Linde als Moderatorin sechs Gäste begrüßte, von denen fünf selbst Alumi*ae der Diaolgperspektiven sind und eine Workshopleiterin im letzten Programmjahr war. Im ersten gemeinsamen Teil führten die Panelist*innen in die Pluralitätsaspekte ihrer jeweiligen Arbeitsfelder ein: Melina Borčak für Journalismus und anti-rassistische Medienanalysen, Josephine Davidoff für Behindertenrechte und Neurodiversität, Anja Fahlenkamp als Expertin für Diplomatie und ministerielle Arbeit, Mohammad Khanjar als Berater für Politik und Öffentlichkeitsarbeit, Naina Levitan für Gesundheit, Gesundheitswesen und Geschlecht und Sonya Ouertani für interreligiösen und jüdisch-muslimischen Dialog sowie Entwicklungszusammenarbeit. Danach hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit in freigewählten Kleingruppen die jeweiligen Themen mit den Expert*innen zu vertiefen und zuletzt für eine Schlussreflexion im Plenum zusammenzukommen.
Der Freitag (14.Oktober 2022) als dritter Seminartag begann mit fünf verschiedenen Morning Spaces, die von und für Teilnehmer*innen Inputs etwa zu islamischen Friedhöfen in Europa, morgendliche Bewegung für Körper und Geist oder Astronomie und Astrologie boten. Dieses und ähnliche Formate hat sich bereits in der Vergangenheit bewährt und bietet den Teilnehmer*innen erste Räume und Möglichkeiten eigenverantwortlicher Gestaltung.
Der weitere Tag stand ganz im Zeichen der Workshops. In einer Session am Vor- und zweien am Nachmittag, arbeiteten und diskutierten die Teilnehmer*innen intensiv in den jeweiligen Kleingruppen.
Vor der dritten Session war es Zeit für das islamische Freitagsgebet, Jum‘ah Mubarak, das von einer der vier religiös-weltanschaulichen Begleiter*innen unseres Seminars, Nour al-Huda Schröter, gemeinsam mit muslimischen Teilnehmer*innen vorbereitet und durchgeführt wurde. Dabei hatten alle Teilnehmer*innen die Möglichkeit, verschiedenen Traditionen des Freitagsgebets kennenzulernen und mitzuerleben.
Am Abend feierten die Teilnehmer*innen Kabbalat Shabbat. Die Rabbinatsstudentin und religiös-weltanschauliche Begleiterin Helene Shani Braun, bereitete – unterstützt von Prof. Dr. Frederek Musall – diesen Gottesdienst sowie die Havdalah-Zeremonie zum Ende des Shabbats am Samstag Abend gemeinsam mit jüdischen Teilnehmer*innen vor und machte so zentrale Elemente der jüdischen religiösen Praxis für alle Teilnehmer*innen erfahrbar.
Der Rest des Abends wurde von den Teilnehmer*innen zum freien Austausch und Beisammensein beim Shabbat-Dinner und darüber hinaus genutzt.
Auch der Samstag (15. Oktober 2022) begann mit den Morning Spaces, die an diesem Tag unter anderem Inputs zu Sukkot, Fragen zur Selbstvergebung und einen kleinen Experimentierraum für spontane Impulse bereithielten. In der anschließenden zweiten Reflexion leitete Kristina Schneider die Teilnehmer*innen im Rahmen der autobiographischen Arbeit mit der Methode der Identitätsmoleküle zu einer individuellen und persönlichen Reflexion über mögliche persönliche Einflüsse auf ihr Leben an. Die anschließende Auswertung zeigte die Vielzahl und Diversität möglicher Faktoren, die die Teilnehmer*innen als Einzelpersonen und als Gruppe vereinen.
Diese wie auch das persönliche Engagement zeigte sich in der anschließenden Mittagspause, wo ein spontaner Input zum Quäkertum und ein Shabbat-Spaziergang von den Dialogperspektiven Teilnehmenden angeboten wurden.
Am Nachmittag gaben alevitische Teilnehmer*innen gemeinsam mit dem religiös-weltanschaulichen Begleiter Barış Şahin einen Einblick in die alevitische Praxis und Spiritualität, bei der sich die Teilnehmer*innen auch mit alevitischer Poesie und Erinnerungspraxis auseinandersetzten.
Am Nachmittag stellten Rachel de Boor, Maximiliane Linde und Henri Vogel den Teilnehmer*innen im ersten Teil der „Diversity Competence in Europe“-Session die verschiedenen Möglichkeiten vor, wie sich die Teilnehmer*innen im weiteren Verlauf des Programmjahres und darüber hinaus bei den Dialogperspektiven einbringen oder von diesen bei ihren eigenen Projekten unterstützt werden können. Anschließend reflektierten sie gemeinsam über die erlernten Diversity Kompetenzen (auch über die, die fehlten) und entwickelten eigene Ideen für die verschiedenen Möglichkeiten und Formate um diese (weiter) zu bearbeiten.
Nach der Havdalah-Zeremonie im Innenhof des Gustav-Stresemann-Instituts beendeten die Teilnehmer*innen den letzten vollen Tag des Herbstseminars, indem die Ergebnisse der Kleingruppen im Plenum wieder zusammenzutragen wurden. Diese wurden schriftlich gesichert und werden im weiteren Verlauf des Programmjahres aufgegriffen. Der intensive Seminartag klang im informellen Rahmen beim mittlerweile traditionellen #socialsaturday aus.
Bevor das Seminar am Sonntagmittag (16. Oktober) endete, versammelten sich die Teilnehmer*innen zu einem christlichen ökumenischen Gottesdienst, der von der christlichen religiös-weltanschaulichen Begleitung, Philine Lewek, gemeinsam mit christlichen Teilnehmer*innen geplant und gefeiert wurde. Auf diesen musikalischen Gottesdienst folgte dann unser letztes Modul des Seminars: eine Feedback-Sitzung, die sowohl inhaltliche und organisatorische Aspekte als auch Denkanstöße für die Gruppe umfasste. Zahlreiche Teilnehmer*innen signalisierten, wie sehr sie die Arbeit der vergangenen Tage gestärkt habe und betonten, die bereits nach wenigen Tagen spürbare Verbundenheit untereinander.
Das erste Seminar des neuen Programmjahres ging zu Ende voller Eindrücke und Erinnerungen an die Intensität der Begegnung, der Zusammenarbeit und der gemeinsamen religiösen Praxis. Und mit zahlreichen Ideen und Plänen für die Arbeit dieses Jahres.
Ein herzliches Dankeschön an alle, die das Herbstseminar zu einem Erfolg gemacht haben.
Wir freuen uns sehr darauf, die begonnene Arbeit über die nächsten Monate gemeinsam fortzusetzen und auf das Wiedersehen in Krakau zu unserem Frühjahresseminar!
Photo credits: ©DialoguePerspectives/ Phil Vetter; Katja Sigutina
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