Vom 6. bis 10.Oktober 2021 begrüßten wir 75 Teilnehmer*innen aus 23 europäischen Ländern und unterschiedlichsten europäischen Kontexten zum Auftaktseminar des neuen Programmjahres in der brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam. Unter dem Titel “Towards a pluralistic European culture of remembrance: navigating the narratives, memories and histories that shape European communities” wurde das Augenmerk auf die Sicht- und Hörbarmachung diverser Erinnerungskulturen gelegt und in Hinblick auf die Pluralisierung europäischer Gesellschaften diskutiert. In verschiedenen Formaten und Gruppengrößen wurde eine tiefe Auseinandersetzung der Teilnehmer*innen untereinander, mit dem Thema sowie mit dem Team ermöglicht.
Am Nachmittag des 6. Oktober begrüßten die Projektreferent*innen Rachel de Boor und Gil Shohat die zum Teil weit angereisten bzw. digital zugeschalteten Teilnehmer*innen mit einführenden Worten zum Dialogperspektiven – Programm im Allgemeinen und den Fragestellungen dieses Seminars im Besonderen.
Nach dem Abendessen fand das erste DialogueCafé statt. Unter Anleitung von Maximiliane Linde vertieften sich die Teilnehmer*innen – angelehnt an ein WorldCafé – Format – in wechselnden Gruppenzusammenhängen nacheinander mit jeweils einer der fünf Konzeptionellen Grundannahmen der Dialogperspektiven. Diese Diskussionen schufen einen Rahmen, zum ersten Mal über ein übergeordnetes Thema tiefer ins Gespräch zu kommen und sich auf das Jahr einzustellen.
Den zweiten Seminartag begannen wir mit zwei intensiven Morgenimpulsen; ein Format, in welchem Teilnehmer*innen ihre eigene Spiritualität, Tradition oder Motivation vorstellen. Anschließend begannen die Workshopphasen, die sich über alle Seminartage hinziehen und Gelegenheit zu intensivem Lernen und Austausch in einer vertraut werdenden kleineren Gruppe bieten. Geleitet werden die Workshops immer von fünf Expert*innen, die eingeladen werden, um einen jeweiligen Aspekt des Oberthemas herauszugreifen.
Dieses Jahr gewannen wir Melina Borčak (workshop title: Incels, Conspiracists, Neonazis: How the genocide against Bosnian Muslims inspires terrorists and extremists worldwide – and how we can change this), Prof. Dr. Frederek Musall (A picture says more than thousand words! Pop culture and the culture of memory), Dr. Cátia Severino (“I’m now in the mirror and where am I?” A reflection on the memory culture in Portugal), Neta-Paulina Wagner (A geography of memory – let’s reclaim space), und Dr. Alexander Graeff (Erinnern heißt Erfinden, oder: Wie neu sind die neuen Narrative?).
Am späten Nachmittag wandte sich Jo Frank, Director of Development der Leo Baeck Foundation und Programmleiter der Dialogperspektiven in einem Input-Vortrag an die neue Generation. Dabei ging er auf verschiedene Aspekte von Erinnerung und Erinnerungspolitik ein, insebsondere auf die Macht des Schweigens in diesen Diskursen und die Frage, welche Momente von Gesellschaften warum und wie erinnert werden – und welche nicht. Die Verantwortung der Teilnehmer*innen sowie des Dialogperspektiven-Programmes sei es, sich auch auf politischer Ebene einzubringen, um wirkliche Veränderung hervorzurufen und mitgestalten zu können.
Abends leitete Kristina Schneider die erste von zwei Reflexionseinheiten an. In dieser Sitzung nahmen sich die Teilnehmer*innen Zeit, über ihre Bedürfnisse und Erwartungen an dieses Seminar anhand der folgenden Leitfragen nachzudenken: „Um mich an diesem Ort und in der Gruppe wohl zu fühlen, brauche ich…“, „Für mich ist es wichtig, über… zu sprechen“ und „Ich gehe mit einem guten Gefühl aus diesem Seminar, wenn…“. Die anonymisierten Antworten der Teilnehmer*innen dienen dem Dialogperspektiven-Team als erste Orientierung zur Planung der kommenden Seminare. Zugleich bot sich die Gelegenheit, als Gruppe gemeinsam die Vielfalt der Bedürfnisse und Erwartungen zusammenzutragen und wahrzunehmen.
Der dritte Seminartag begann mit einer Exkursion zum Alexander Haus statt, das an der Grenze zwischen Potsdam und Berlin liegt. Das Alexander Haus war ursprünglich als Sommerhaus der jüdischen Familie Alexander erbaut und wurde in den 1930er Jahren vom nationalsozialistischen Deutschland arisiert, die Familie war gewzungen, nach Großbritannien zu fliehen. In den Jahren der DDR wurde es von einer einheimischen Familie gepachtet. Nach dem Fall der Berliner Mauer, die durch den Garten des Anwesens verlief, gelangte das Haus über viele Umwege wieder in die Hände der Familie Harding (ehemals Alexander). Seit 2015 wird das Haus Stück für Stück zu einem Erinnerungs- und Bildungsort und zu einem Ort des interreligiös-weltanschaulichen Dialogs umgestaltet, in den sich Gruppen für Seminare oder Workshops zurückziehen können. So war dieser Ort prädestiniert für eine Exkursion mit unsereren Teilnehmer*innen, um die physische Manifestation dieses einzigartigen Ortes im Zusammenspiel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erleben. Wir wurden von Silke Radosh-Hinder (Leo Baeck Foundation) und Berlind Wagner (Alexander Haus e.V.) begrüßt und erhielten anschließend eine Führung über das Gelände und die Umgebung.
Nach der Rückkehr ins Hotel war es Zeit für das islamische Freitagsgebet, Jumma Mubarak, das von einer der drei religiös-weltanschaulichen Begleiter*innen unsere Seminar, Nour al-Huda Schröter in Zusammenarbeit mit mehreren muslimischen Teilnehmer*innen vorher organisiert wurde. Bei diesem Gebet hatten alle Teilnehmer*innen die Möglichkeit, verschiedenen Traditionen des Freitagsgebets kennenzulernen und mitzuerleben, die ihnen von den Teilnehmern mit unterschiedlichem muslimischen Hintergrund vorgestellt wurden.
Nach einer Fortführung der Workshop-Phasen wurde der Nachmittag mit einer interessanten Podiumsdiskussion abgerundet, an der vier Mitglieder des neuen Dialogperspektiven-Projekts Coalition for Pluralistic Public Discourse (CPPD) teilnahmen. Die CPPD befasst sich mit Erinnerungskultur aus einer pluralistischen Perspektive. Auf dem digitalen Podium saßen: Nadja Ofuatey-Alazard, Dr. Noa K. Ha und Mohamed Amjahid, moderiert wurde die Diskussion von Prof. Frederek Musall. Die vier Podiumsteilnehmer*innen diskutierten den aktuellen Stand der deutschen Erinnerungsdiskurse vor dem Hintergrund der laufenden Debatten z.B. über die Notwendigkeit, sich intensiver mit der kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen um Ungleichheiten und Ausschlüsse in der Gegenwart zu verstehen. Darüber hinaus beantworteten die Podiumsteilnehmer*innen die Fragen der Teilnehmer*innen, wie solche Erkenntnisse in konkretes Handeln umgesetzt werden können. Ein roter Faden, der sich durch ihre Fragen zog (wie auch durch viele Diskussionen während des Seminars), war die Frage, ob strukturelle Veränderungen in Bezug auf eine pluralistische Erinnerungskultur am ehesten von innen oder von außen zu erwarten sein sollten.
Der Freitagabend stand ganz im Zeichen des Kabbalat Shabbat. Unsere neue religiös-weltanschauliche Begleitung Nina Rosen koordinierte diesen Gottesdienst sowie die Havdalah-Zeremonie am Ende des Schabbats gemeinsam mit unseren jüdischen Teilnehmer*innen und machte so die zentralen Elemente der jüdischen religiösen Praxis für alle Teilnehmer*innen erfahrbar.
Der Rest des Abends war dann dem gegenseitigen Lernen gewidmet: Unser Teammitglied Maximiliane Linde, die in diesem Programmjahr die Vernetzung und Kommunikation unter den Teilnehmer*innen koordiniert, konzipierte dazu einen internen Raum des Austauschs zu den vielfältigen Engagements und Netzwerke mit dem Ziel, bereits zu Beginn des Seminarjahres Synergieeffekte zwischen den Teilnehmer*innen zu erzielen.
Der Aspekt des gegenseitigen Lernens und der Reflexion stand auch im Mittelpunkt unseres vierten Seminartages am Samstag (9. Oktober), dass durch ein jüdisch-muslimisch-christliches Gespräch über Rituale des Gedenkens aus diesen drei Perspektiven eröffnet wurde, das von Pfarrerin Dr. Kerstin Söderblom, Rabbiner Maximilian Feldhake sowie Dr. Ayşe Başol geführt wurde.
Der Rest des Tages wurde mit weiteren intensiven Workshop-Phasen sowie einer persönlichen Reflexion der Teilnehmer*innen über für sie besonders bedeutsame Erinnerungsobjekte verbracht. Die in Kleingruppen geführte Diskussion schärfte das Bewusstsein für das Verhältnis zwischen persönlichen und kollektiven Erinnerungsmomenten in unseren europäischen Gesellschaften und vertiefte die vertrauensvollen Beziehungen innerhalb der Gruppe.
Nach der traditionellen Havdalah-Zeremonie beendeten die Teilnehmer*innen den letzten vollen Tag des Herbstseminars mit einer Diskussion im Plenum, in der gemeinsame Themen aus den fünf durchgeführten Workshops zusammengeführt wurden. Im so genannten „Fishbowl“-Format diskutierten Teilnehmer*innen und Teammitglieder über Möglichkeiten, die in Potsdam gewonnenen Erkenntnisse im Laufe des Programmjahres zu verstetigen. Der intensive Seminartag wurde dann im informellen Rahmen in unserem mittlerweile klassischen #socialsaturday abgeschlossen.
Bevor das Seminar am Sonntagmittag (10. Oktober) endete, versammelten sich die Teilnehmer*innen zu einem christlichen ökumenischen Gottesdienst, der von unserer christlichen religiös-weltanschaulichen Begleitung, Philine Lewek, geplant und koordiniert wurde. Auf diesen sehr musikalischen Gottesdienst folgte dann unser letztes Modul des Seminars: die obligatorische Feedback-Sitzung zu unserem Seminar. Zahlreiche Teilnehmer*innen signalisierten, wie sehr sie die Arbeit der vergangenen Tage gestärkt haben und betonten die innovativen Elemente des Dialogperspektiven-Ansatzes, Teilnehmer*innen mit unterschiedlichsten Hintergründen und Weltanschauungen zusammenzubringen, um Europa neu zu gestalten.
Zum Schluss wiesen Projektkoordinatorin Johanna Korneli sowie die Projektreferent*innen Rachel de Boor und Gil Shohat die Teilnehmer*innen auf die verschiedenen Möglichkeiten hin, auch zwischen den Seminarveranstaltungen mit dem Programm in Kontakt zu bleiben, etwa durch einen Beitrag zu unserer Blogserie „This Is Us“, zur Podcast-Serie „(Re-)Shaping Europe“ oder auch durch die Möglichkeit, Veranstaltungen mit finanzieller Unterstützung der Dialogperspektiven zu organisieren.
Wir freuen uns darauf, den 2021/22er Jahrgang spätestens im März 2022 in Luxemburg zu sehen und bis dahin digital in Kontakt zu bleiben.
©Phil Vetter/DialoguePerspectives ©Adrian Fiedler
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