von Thomas Spinrath
„Nun sprechen wir selbst.“ Diese Worte stehen am Anfang des Manifests von #OutInChurch, mit welchem sich heute über einhundert hauptamtliche, ehrenamtliche und ehemalige Mitarbeitende der römisch-katholischen Kirche in Deutschland öffentlich als queer geoutet haben. Manche werden sich vielleicht denken: ‚Queer zu sein sollte doch heute keine große Sache mehr sein. Warum muss da jetzt so ein Wind drum gemacht werden?‘ Andere sagen sich vielleicht: ‚Ich habe es doch eh immer schon gewusst, dass viele katholische Priester homosexuell sind, das ist doch keine Neuigkeit!‘ Wieder andere mögen sich fragen, warum queere Menschen sich überhaupt noch in der katholischen Kirche engagieren, wo doch jede*r weiß, dass es sich um eine strukturell queerfeindliche Institution handelt.
Die Wirklichkeit ist komplexer als das. Es geht um eine Vielfalt von Identitäten und Geschichten, um Menschen, die in der katholischen Kirche groß geworden sind, tief im christlichen Glauben verwurzelt sind oder sich nach langer Verbundenheit abgewendet haben. Es geht um Geschichten von Leid, Gewalt und Ausgrenzung aufgrund geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung, aber auch um Geschichten von Bestärkung, Orientierung und Halt. Geschichten, die in einem System der Angst unsichtbar gemacht wurden. Es geht um Angst, durch die Menschen sich nicht in ihrer Vielfalt zeigen konnten. Bei #OutInChurch – Für eine Kirche ohne Angst erzählen diese Menschen nun selbst ihre Geschichten und machen so die Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Identitäten in der römisch-katholischen Kirche sichtbar.
Ich bin einer dieser Menschen. Die katholische Kirche und katholische Institutionen waren zentrale Lebensorte meiner Kindheit und Jugend in der Nähe von Köln. Ich war in einem katholischen Kindergarten und auf katholischen Schulen, ich bin zur Kommunion und zur Firmung gegangen, ich war Sternsinger und Messdiener. Später habe ich Ferienfreizeiten, Firmvorbereitungen und interreligiöse Jugendprojekte ehrenamtlich selbst geleitet. Bis heute bin ich Mitglied der Kolpingjugend Hürth und projektbezogen aktiv. An ganz vielen dieser Orte habe ich bestärkende Erfahrungen gemacht, konnte mich in vielerlei Hinsicht entfalten und habe großartige Menschen kennengelernt. Es wurde nicht wie an anderen Orten ‚von oben‘ reingeredet und reglementiert. Kirche, wie ich sie erlebt habe, hatte und hat das Potenzial, gerade Kindern und Jugendlichen einen Raum für Entfaltung, für offene und kritische Auseinandersetzung mit Sinnfragen und Religiosität, für Gemeinschaft zu eröffnen. Sie hat mir früh den Antrieb gegeben, Verantwortung übernehmen und gegen Ungerechtigkeiten kämpfen zu wollen – auch innerhalb der katholischen Kirche.
Und dennoch: Trotz dieser bestärkenden Erfahrungen und obwohl ich mit meiner katholischen Sozialisation (im Vergleich zu vielen anderen Kindern und Jugendlichen) sehr viel Glück hatte, habe ich mich lange Zeit nicht getraut, mich in meiner ganzen Vielfalt zu zeigen und habe stattdessen meine Queerness versteckt gehalten. Wahrscheinlich nicht nur trotz, sondern auch gerade wegen der vielen positiven Erfahrungen. Ich hatte Angst, vieles von dem zu verlieren, was mein Leben sehr bereichert. Was mir dabei vor allem gefehlt hat, waren andere (sichtbar) queere Personen in meinem katholischen Umfeld, die mir als Vorbild hätten dienen können. Stattdessen wusste ich, dass Menschen ihren Job in der katholischen Kirche verlieren können, wenn sie ihre Queerness offen ausleben. Ich erlebte, dass an meiner katholischen Schule geschlechtliche und sexuelle Vielfalt im Unterricht nicht als Normalität, sondern stattdessen lieber gar nicht richtig behandelt wurde. Ich bekam als Fünftklässler mit, wie über einen Schulsprecherkandidaten gemunkelt wurde, dass er homosexuell sei. Er wurde am Ende nicht gewählt. Vielleicht aus anderen Gründen, aber etwas blieb bei mir hängen. Die Liste an von mir als Jugendlicher beobachteter offensichtlicher und subtiler Diskriminierungen anderer, welche ich indirekt auch immer wieder auf mich selbst bezogen habe, könnte ich lange fortsetzen.
Nichtsdestotrotz habe ich zu keinem Zeitpunkt persönlich in Frage gestellt, dass wenn es G*tt[1] gäbe, queere Vielfalt von G*tt gewollt sein müsste. So viel war von der positiven Kraft der christlichen Botschaft bei mir angekommen. Dennoch war die weltliche Botschaft klar: Queere Menschen müssen an katholischen Orten Ablehnung und Ausgrenzung fürchten. So habe ich mich inmitten dieser heteronormativen Umgebung gefragt: Werde ich weiterhin als Schülersprecher meiner katholischen Schule oder als Leiter einer katholischen Ferienfreizeit akzeptiert, wenn Menschen wüssten, dass ich queer bin? Ohne entsprechende Vorbilder konnte ich diese Fragen nicht entschieden mit Ja beantworten und habe lieber aus Angst vor Verlust einen Teil von mir versteckt. Am Ende war dies die falsche und eine schmerzvolle Entscheidung. Erst in den letzten Jahren habe ich dank anderer, nicht-katholischer Menschen und Orte geschafft, das Versteckspiel auch an katholischen Orten Schritt für Schritt zu beenden.
Nach vielen kleinen Schritten heraus aus der Angst, ist mir dann sehr wichtig gewesen, nicht nur mich selbst offener zu zeigen, sondern auch für die Sichtbarkeit und die Queersensibilität zu kämpfen, die mir als Jugendlicher an katholischen Orten immer gefehlt haben. Entgegen der jahrelangen Sorge habe ich in diesem Einsatz sehr viel positive Bestärkung erfahren. Mit meinem Ferienfreizeitenteam konnten wir beispielsweise sehr offen daran arbeiten, wie wir sensibler mit geschlechtlicher Vielfalt umgehen und Binaritäten durchbrechen können. Während einer Firmvorbereitung gab es überschwänglich positive Reaktionen von Jugendlichen auf einen Workshop zu Queerness und katholischer Kirche. Es gibt aber auch katholische Orte, an denen ich größeren Hürden begegne. So müssen wir beispielsweise als Initiative Queer Cusanus in meinem katholischen Studienförderwerk immer wieder für die Relevanz queerer Themen kämpfen, welche nicht von allen Seiten als selbstverständlich erachtet wird.
In diesem Engagement haben mich nicht zuletzt der Austausch und die Begegnungen im Programm der Dialogperspektiven sehr bestärkt. Direkt während meiner ersten Seminarteilnahme im Herbst 2019 gab es unter dem Thema „Identitätspolitiken, Selbstverständnisse und ihr Ausdruck – eine Analyse“ Raum für das oftmals ambivalente Wechselspiel von queeren und religiösen Identitäten. Dass Queerness und Religion zwar oft im Konflikt zueinanderstehen, sich aber auch gegenseitig tief bereichern können, war dann kein dumpfes Bauchgefühl mehr. Vielmehr konnte ich erleben, wie diese produktive Spannung über religiöse und weltanschauliche Grenzen hinweg geteilt und theologisch fundiert wurde. Ich durfte die Empathie für queere Kämpfe auch in vielen Diskussionen und persönlichen Gesprächen auf späteren Dialogperspektiven-Seminaren erleben, auch wenn sie kein Grundkonsens unter allen Teilnehmenden war. Diese Begegnungen und Erfahrungen beim Blick über den Tellerrand der eigenen Religionszugehörigkeit hinweg haben mich motiviert, meine eigenen Kämpfe in der katholischen Kirche weiterzuführen.
Die Teilnahme an der bundesweiten #OutInChurch-Kampagne stellt für mich einen weiteren Aufbruch im Hinblick auf queeren Aktivismus in der katholischen Kirche dar. Wir können mit dieser Kampagne eine Sichtbarkeit in der Breite erzeugen, die bisher nur auf wenige mutige Vorkämpfer*innen beschränkt war. Unsere Kampagne zieht ihre Stärke aus der Vielfalt an Menschen und Geschichten, die wir vereinen und sichtbar machen können. Wir können zeigen: Wir sind nicht allein. Wir bereichern durch unsere Vielfalt katholische Lebensorte und das schon immer. Es ist Zeit, die Angst zu durchbrechen.
[1] Diese im Christentum eher unübliche Schreibweise entspringt einer (queer-)feministischen Theologie. Sie soll deutlich machen, dass G*tt die Grenzen dessen, was wir mit Sprache beschreiben können, übersteigt. Der Stern betont dabei, dass G*tt nicht zuletzt (patriarchale) Vorstellungen von Geschlecht sprengt
Thomas Spinrath, 25, studiert im M.A. Transformationsstudien an der Europa-Universität Flensburg und ist Stipendiat des katholischen Studienförderwerks Cusanuswerk. Er ist seit dem Programmjahr 2019/20 Teilnehmer der Dialogperspektiven. Thomas betreibt an verschiedenen Orten queer-katholischen und queer-interreligiösen Aktivismus. Zuletzt organisierte er im Herbst 2021 die von den Dialogperspektiven geförderte interreligiöse Tagung „Queering my Religion“.
Homepage und Manifest der Kampagne: www.outinchurch.de
Unsere Podcastfolge aus der Reihe „(Re-)Shaping Europe“ zum Thema finden Sie hier.
Die ARD-Dokumentation „Wie Gott uns schuf“ und Testimonials zur Kampagne in der ARD-Mediathek finden Sie hier.
[1] This way of writing about the deity, unusual in Christian settings, derives from a (queer) feminist theology. It is intended to make clear that G*d transcends the bounds of anything that we can describe with language. The asterisk, as is common in German language usage, emphasises that G*d also transcends (patriarchal) concepts of sex and gender.
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