Rückblick: Paneldiskussion „Pluralismus und politische Teilhabe in Europa“

Im Rahmen der Langen Nacht der Ideen des Auswärtigen Amts am 19. Juli 2020 richteten die Dialogperspektiven eine vierstündige, digitale Veranstaltung zum Thema „Europäische Interventionen – Navigieren durch pluralistische Gewässer“ aus. Lesen Sie den Bericht zur gesamten Veranstaltung oder sehen Sie den Mitschnitt der Veranstaltung!
Wir beschäftigten uns mit drängenden Fragen von Pluralität, politischer Teilhabe, Allianzenbildung und gemeinsamer, inklusiver Gestaltung unserer Lebenswelten in einem vielfältigen Europa, das sich durch Möglichkeiten zur Zusammenarbeit auszeichnet, aber gleichzeitig von politischer Fragmentierung und erstarkendem Nationalismus geprägt ist. Mit Hilfe verschiedener Formate zeigten wir die Vielfalt der Perspektiven und die Komplexität dieser Themen.
Unsere Veranstaltung und die Lange Nacht der Ideen stand im Kontext von Europa. Und so stellten wir uns die Fragen: Wer ist Europa? Wer darf Europa gestalten? Wie wird Europa zu unserem Europa? Wollen wir das überhaupt? Im Rahmen einer Paneldiskussion sprachen wir mit Staatsminister Michael Roth aus dem Auswärtigen Amt, der Europaabgeordneten Terry Reintke (The Greens / EFA) und der Geschäftsführerin der Allianz Kulturstiftung Esra Küçük über die Möglichkeiten und Grenzen politischer Teilhabe in einem pluralistischen Europa und diskutierten Strategien des Navigierens durch unsere pluralistische europäische Gesellschaft. Moderiert wurde das Gespräch von Iman Al Nassre, freie Referentin zu den Arbeitsschwerpunkten Säkularität, Religion, Weltanschauung und Staat in europäischen Demokratien, die projektbezogen bei den Dialogperspektiven arbeitet.

Video der Paneldiskussion I

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Zu Beginn der Veranstaltung bat Iman al Nassre die Diskussionsteilnehmer*innen um ein Statement. Was bedeutet Teilhabe in Europa? Für Terry Reintke ist Teilhabe in Europa kein abgeschlossenes Projekt und im stetigen Wandel. Es sei nicht immer einfach den richtigen Weg zu finden, denn Europa ist nicht immer eindeutig gut oder schlecht. Ihr ist es daher wichtig, dass wir dieses Gespräch weiterführen und den Prozess nicht als abgeschlossen betrachten. Esra Küçük betonte, dass es neben dem rechtlichen und strukturellen Rahmen auch eine emotionale Komponente von Teilhabe gibt. Bin ich gemeint, bin ich repräsentiert, spricht mich das persönlich an? Das „anfassbare“ Europa bedeutet für sie Teilhabe. Für Staatsminister Michael Roth ist Europa ein Ort, an dem alle Menschen ohne Angst verschieden sein können. Gleichzeitig haben wir ein schmerzhaftes Spannungsverhältnis zweier Pole: Europa ist ein Ort der Abkehr von Homogenität ist und eine Einladung von Vielfalt, gleichzeitig braucht es dennoch Gemeinsamkeiten, nämlich europäische Werte. Das Verhältnis zwischen einem Bekenntnis zu gemeinsamen Werten und einer Bekräftigung von Offenheit und Vielfalt muss immer wieder austariert und diskutiert werden, wenn wir Begegnung auf Augenhöhe, gegenseitigen Respekt und die Verteidigung bestimmter Werte und Normen erreichen wollen. Europa sei daher für ihn vor allem ein politisches und kulturelles Projekt und kein rein wirtschaftliches.
Aber auch kritische Fragen wurden im Rahmen der Paneldiskussion gestellt. In Bezug auf die Aussage von Staatsminister Roth zu Europa als Einladung für Vielfalt, erkundigte sich Iman al Nassre nach der Situation an den europäischen Außengrenzen. Wenn zu den europäischen Werten gehört, dass Europa ein Friedensprojekt ist (bestätigt durch Europa als Friedensnobelpreisträgerin) dann trägt dieses Europa auch eine Verantwortung für flüchtende Menschen. Bleibt die Einladung angesichts besagter Situation nur ein symbolischer Wert? Staatsminister Roth entgegnet auf diese Frage, dass sein Verständnis von Europa mitnichten von allen politischen Kräften geteilt wird. Er macht auf wachsenden Nationalismus aufmerksam und bekräftigt, wie wichtig Engagement und Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Verständnissen von Europa sei, wie auch in allen anderen politischen Ebenen und Konflikten. Seiner Meinung nach kann uns dieser „realistische Blick“ auf Europa helfen zu verstehen, dass wir für unsere Vorstellung von Europa auch kämpfen müssen.
Terry Reintke berichtete über ihre Arbeit im Europäischen Parlament und ihre Wahrnehmung dieser Auseinandersetzung politischer Kräfte angesichts eines erstarkenden Nationalismus. So verschieben sich laut ihr die Diskursräume, nicht nur jene zu Fragen von Migration, sondern auch beispielsweise zu Geschlechtergerechtigkeit und Rechtstaatlichkeit. Auch sie bekräftigt, dass wir diesen Kampf und die politische Auseinandersetzung führen müssen, denn diese Fragen nach Vielfalt und Offenheit betreffen den Kern dessen, für was Europa steht.
Esra Küçük stellte die Frage, wie junge Menschen in Europa politisch partizipieren können. Aufgrund ihres Alters können sie nicht an Wahlen teilnehmen, dennoch sind sie Teil des Projekt Europas und die europäische Politik entscheidet über ihre Zukunft. Sie nannte hier beispielsweise die Abstimmung zum Brexit, bei der viele junge Menschen ihre Meinung nicht zum Ausdruck bringen konnten. Michael Roth warf hier jedoch ein, dass auch unter den jungen Menschen in Großbritannien, die bereits wählen durften, die Wahlbeteiligung beim Brexit-Votum vergleichsweise gering war. Er forderte auf die Zivilgesellschaft nicht als „bequemes Sofa“ zu betrachten, sondern rief zu einer stärkeren Beteiligung der Zivilgesellschaft auf. Seiner Meinung nach gehört zu Teilhabe auch Selbstinitiative und nicht nur die Politik, die Voraussetzungen zur Teilhabe schafft. Hier nannte er als positives Beispiel den Aktivismus zum Klimaschutz, der gezeigt hätte, wie man sich im öffentlichen Diskurs Gehör verschaffen kann. Außerdem bekräftigte er, dass wir Europa nicht nur von Brüssel aus denken dürfen. Europa wird vor allem auch in den einzelnen Nationalstaaten, in Regionen, in Kommunen, in den jeweiligen Zivilgesellschaften „gemacht“. Politische Beteiligung in Europa findet nicht nur alle fünf Jahre bei den Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Terry Reintke entgegnete hierauf, dass politische Institutionen jedoch immer noch sehr männlich, weiß und akademisch geprägt sind, und dass es die Aufgabe der Personen mit politischer Macht sei, sich immer wieder zu fragen, wie politische Teilhabe zugänglicher werden kann. Die Forderung nach mehr Beteiligung und Initiative der Zivilgesellschaft reiche nicht aus, um politische Teilhabe zu sichern und inklusiv zu gestalten.
Passend zu unserem ersten Panel des Abends drehte die Diskussion sich außerdem um Sprache. Iman al Nassre stellte die Frage in den Raum, wie auch eine bildungsbürgerliche und akademische Sprache ausschließend wirken kann, gerade in Anbetracht der Zugänglichkeit politischer Positionen und Institutionen. Michael Roth hier stellte in Bezug auf Sprache als größeres Problem eine Radikalisierung der Sprache heraus, eine Verankerung von Fake News in der Politik und, dass momentan „besser wissen“ mehr zu zählen scheine, als „besser machen“. Er machte sich Sorgen um Respektlosigkeit und Drohungen im politischen Diskurs. Gleichzeitig gab er jedoch zu, dass auch die Zugänglichkeit von Sprache ein Thema sein muss, und dass Politik keine Sprache entwickeln darf, die über Menschen hinweg geht. Wir müssen uns einer Sprache bedienen, die nicht abschottend und exklusiv ist, sondern inklusiv, auch wenn er hierfür kein Patentrezept habe.
Terry Reintke bekräftigte den Punkt, dass Sprache im politischen Diskurs oft ausschließend wirkt. Sie berichtete jedoch auch aus dem Europäischen Parlament, in dem nach dem Brexit kaum noch Parlamentarier*innen Englisch als Muttersprache beherrschen. Für sie ist die Kommunikation in einer Fremdsprache eng mit dem Wegfall eines bestimmten politischen Habitus verbunden, der sich aus der (akademischen) Sozialisierung in der eigenen Sprache ergibt. Ihrer Meinung nach kann dies zum Öffnen von Diskursräumen beitragen. Sie betonte außerdem, dass viele Gruppen auch erst untereinander ihre Sprache finden müssen, bevor diese in den institutionell-politischen Diskurs eintreten und sich dort „abarbeiten“, und welchen Beitrag kulturelle und zivilgesellschaftliche Angebote dabei leisten können.
Ebenfalls in Bezug auf Sprache betonte Esra Küçük, dass sie mit ihrer Arbeit vor allem auch die „Sprache der Herzen“ treffen möchte, während der politische Sektor sich vor allem der kognitiven Ebene bedient. Sie stellte sich die Frage, wie wir den Kampf um konkurrierende Verständnisse von Europa auch in andere Kanäle übersetzen können, durch Kunst und Kultur, sodass sich auch dort Diskursräume öffnen und Dialog entsteht.

Wir bedanken uns herzlich bei Iman al Nassre, Staatsminister Michael Roth, Terry Reintke und Esra Küçük für die spannende und inspirierende Diskussion über politische Teilhabe in Europa!

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