Rückblick: Herbstseminar 2019

Ein wunderbares erstes Seminar des neuen Programmjahres liegt hinter uns. Es war ein gelungener Start in ein ganz besonderes Jahr, denn zum ersten Mal konnten wir im Rahmen der Dialogperspektiven zusätzlich zu den 40 Stipendiat_innen aller deutschen Begabtenförderungswerke auch 12 europäische Studierende und Promovierende aus Polen, Ungarn, Großbritannien, Schweden und Luxemburg als Teilnehmende begrüßen und auf diese Weise eine Vielzahl neuer Themenkomplexe erschließen und dabei von der Erfahrungsvielfalt der Teilnehmenden profitieren.

Während fünf intensiver Tage des Arbeitens, Diskutierens und gemeinsamen Erlebens religiöser Praxis sind die Teilnehmenden bereits auf eine ganz besondere Weise zusammengewachsen: Es sind Bindungen, Allianzen und Freundschaften entstanden, die das Fundament eines einzigartigen europäischen Netzwerks Studierender und Promovierender mit ganz unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Zugehörigkeiten, aber auch akademischen Disziplinen bilden, das im Laufe dieses Programmjahres weiter auf- und ausgebaut wird.

Wie wichtig ein solches Fundament für die Zielsetzung unseres Programms ist, verdeutlichte eine Teilnehmerin nach dem Seminar in einem Blog-Beitrag:

Was mir dabei passiert ist, fühlt sich an wie ein Wunder. Ich konnte endlich erleben, was ich in meinem bisherigen Leben nur vermutet habe – Religiösität muss uns nicht trennen, sondern kann uns tatsächlich verbinden, solange wir sorgfältig auf unsere Verschiedenheit achtgeben und uns von der Spiritualität einer anderen Person in Staunen, nicht in Angst versetzen lassen. Dass man sich dabei verändert, mag nicht gerade die kleinste Herausforderung für das eigene Leben sein, aber es bedeutet keinesfalls, dass die eigene Identität dabei Schaden nimmt. Das Gegenteil ist der Fall: Wir können uns gemeinsam stärken!

Im Rahmen von vier Arbeitsgruppen setzten sich die Teilnehmenden mit unterschiedlichen Aspekten des Seminarschwerpunkts „Religion und Identität“ auseinander: mit gesellschaftspolitischen Dimensionen des Begriffs der Anerkennung im Kontext von Identitätspolitik, mit den Phänomenen von multireligiöser Identität und religiöser Ambiguität in europäischen Gesellschaften, mit Subjektkonstruktion im Spannungsfeld von Identitätspolitik und Sozialphilosophie sowie mit (post-)migrantischen Identitätsdiskursen.

In den Arbeitsgruppen wurde auf eindrucksvolle Weise deutlich, wie die gemeinsame Arbeit dort durch die europäische Erweiterung unseres Programms um nochmals neue Perspektiven bereichert werden konnte – etwa in Diskussionen um das Zusammenleben von Religionsgemeinschaften in verschiedenen europäischen Gesellschaften und die daraus resultierenden gesellschaftspolitischen, aber auch persönlichen Implikationen.

Die gemeinsame religiöse Praxis während der Seminartage stellte einen weiteren Schwerpunkt dar. Eine Kabbalat-Shabbatfeier, das muslimische Freitagsgebet und eine christlich – ökumenische Andacht in der Gollwitzer Dorfkirche waren die Höhepunkte des religiösen Programms, das von den Teilnehmenden unter Anleitung der religiösen Begleiter_innen vorbereitet und durchgeführt wurde. Bei der Gestaltung der Programmpunkte stand stets die Sichtbarkeit innerreligiöser Vielfalt im Vordergrund; sei es durch die Berücksichtigung liberaler und orthodoxer Traditionen in der jüdischen Praxis, die Betrachtung unterschiedlicher Textauslegungen innerhalb der islamischen Religion oder das Verbinden katholischer, protestantischer oder freikirchlicher Liturgie.
Zu Beginn eines jeden Tages startete die Gruppe gemeinsam mit religiösen Morgen-Inputs, die von den Teilnehmenden gestaltet wurden: mit einer meditativen Achtsamkeitsübung, einer künstlerischen Auseinandersetzung mit Selbst- und Fremdwahrnehmung oder einer Reflexion über die Bedeutung von Schlaf und Traum in jüdischen, muslimischen und christlichen Traditionen. Unter dem Titel „Queering Religion“ diskutierte die Gruppe zudem über queere Konzepte und Positionen unterschiedlicher religiöser Traditionen sowie über queere Zugehörigkeiten in den jeweiligen Communities.

In unterschiedlichen Reflexionsformaten setzten sich die Teilnehmenden mit fluiden Identitätskonstruktionen, mit Selbstwahrnehmung und Fremdzuschreibung sowie mit der eigenen Position als Zugehörige unterschiedlicher religiöser, kultureller und sozialer Gruppen und daraus resultierender Privilegien und/oder Diskriminierungserfahrungen auseinander.

Diskussionen und Debatten über gesellschaftliche Herausforderungen in unterschiedlichen europäischen Gesellschaften, über die Stellung von Minderheiten, politische Entwicklungen in Europa, aber auch theologische Fragen zu religiöser Praxis, verschiedenen Auslegungen religiöser Schriften oder Fragen der Gleichberechtigung aus unterschiedlichen religiösen und nichtreligiösen Perspektiven bestimmten über das offizielle Programm hinaus die Abende und Nächte in Gollwitz.

Während einige Teilnehmende bereits in ihren jeweiligen Gemeinschaften, Universitäten und Organisationen in Europa aktiv sind und durch ihre Programmteilnahme ihre Netzwerke untereinander bekanntmachen und miteinander erweitern konnten, war es für andere die erste Gelegenheit, Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen kennenzulernen, von den Begegnungen und dem Austausch mit ihnen bzw. voneinander zu lernen und neue Perspektiven zu gewinnen.

Die zahlreichen Momente, die ohne den einzigartigen Raum, den die Dialogperspektiven für die Begegnung und die gemeinsame Arbeit ihrer Teilnehmenden schaffen, nicht so entstehen könnten, fasst der Seminarleiter Prof. Dr. Frederek Musall zusammen, indem er betont:

Dialogperspektiven ist kein interreligiöser Dialog im klassischen Sinne! Es geht uns vielmehr darum, die in unserer europäischen Gesellschaft vorhandene Multiperspektivität an religiösen und weltanschaulichen Verortungen und Haltungen sichtbar, nachvollziehbar, kommunizierbar zu machen. Aber eben nicht des bloßen Aufzeigens des bereits Vorhandenen wegen, sondern weil uns dabei die Perspektivenvielfalt im Miteinander ermöglicht zu realisieren, wer wir als Teile der europäischen Gesellschaft sein können und wollen! Dialogperspektiven ist der Mut, die offene Gesellschaft nicht nur intellektuell zu denken und zu entwerfen, sondern sie aktiv wie kreativ zu gestalten.

Voller Eindrücke und Erinnerungen an die Intensität der Begegnung, des gemeinsamen Arbeitens und der gemeinsamen religiösen Praxis haben wir das erste Seminar im neuen Programmjahr beendet. Bereits jetzt wurden eine Vielzahl an Ideen und Plänen für das Frühjahrsseminar im März 2020 in Luxemburg gesammelt und die Vorfreude auf das Wiedersehen und den Austausch bis dahin ist bei allen Beteiligten immens. Ein herzlicher Dank an alle Teilnehmer_innen, AG-Leiter_innen und religiöse Begleiter_innen!

 

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