von Santhi Corcoran
Ich wurde in Malaysia als Kind eines Grundschulrektors geboren. Meine Eltern engagierten sich in den lokalen Gemeinschaften dafür, dass jedes Kind Zugang zu Bildung erhält. Malaysia, ein dreisprachiges Land, hat ein Schulsystem in öffentlicher Trägerschaft, das allen Bürgern kostenlosen, mehrsprachigen Unterricht garantiert, von den Primar- und Sekundarschulen bis hin zur Hochschule. Bei meiner Einschulung war ich dreisprachig, keine Seltenheit in einem multikulturellen, mehrsprachigen und multireligiösen Land. Zu Hause lernte ich eine regional gesprochene Sprache und Englisch, und im täglichen Umgang mit einheimischen Kindern und Erwachsenen die offizielle Landessprache Bahasa Malaysia.
Meine Schule war zweisprachig, multikulturell und multireligiös, ein katholisches Nonnenkloster, an dem auch Lehrer*innen aus verschiedenen Kulturen, Ethnien und Glaubensrichtungen unterrichteten. Zu ihrem Bildungsauftrag gehörte auch weltanschauliche Prägung. In der Vorschule, Grundschule und weiterführenden Schule lernten wir nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen und alle anderen Schulfächer, sondern man vermittelte uns auch ein Wertesystem und religiöse Bildung. In Aussehen, Struktur und Lehrplan eindeutig westlich orientiert, war die Schule in Bezug auf Glauben, Überzeugungen oder Kultur inklusiv. Vielleicht ist das heute anders, aber als ich dort Schülerin war, war es ein integrativer Ort mit Gebetsräumen für muslimische Schüler, nicht katholische Schüler*innen waren vom Religionsunterricht befreit und es herrschte gelebte Toleranz für alle Kinder aus agnostischen Familien. Niemand wurde belehrt, bekehrt oder musste sich dafür rechtfertigen, dass er nicht gläubig war. Die Schule bekannte sich zur Diversität und nahm Schüler*innen mit unterschiedlichstem kulturellen Hintergrund und aus allen sozialen Schichten auf. Der Geschichts-, Erdkunde- und Religionsunterricht war nicht auf die Landesgeschichte beschränkt, sondern nahm die ganze Welt in den Blick.
Auch die Kolonialgeschichte war Teil des Lehrplans. Malaysia war im Laufe seiner Geschichte drei Kolonialmächten unterstellt. Auf die Ausbeutung durch Portugal 1511 bis 1641, das einen lukrativen Gewürzhandel betrieb, folgte von 1641 bis 1825 unter der Herrschaft der Niederländer die Ausbeutung durch die Niederländischen Ostindien-Kompanie und schließlich war das Land von 1825 bis 1957 Teil des britischen Empires mit, für das Asien eine Quelle des Reichtums darstellte. Malaysia, eine Monarchie mit einem reichen kulturellem Erbe, ist durch die die Ansiedlung von Händlern und Menschen aus dem gesamten asiatisch-pazifischen Raum eine multi- und interkulturelle Gesellschaft.
Sowohl in Bezug auf die ethnische Zugehörigkeit, die Kultur als auch den Glauben läuft in mir diese facettenreiche Vergangenheit zusammen. In meiner Kindheit war mir das vielleicht noch nicht bewusst, aber als Erwachsene bin ich heute dankbar, von Vielfalt geprägt worden zu sein, sowohl in meinem persönlichen Leben als auch in meiner Bildungsgeschichte. Malaysia hat sich seit meiner Kindheit komplett verändert; was ich beschreibe, sind also Erinnerungen an eine ganz andere Zeit, ein ganz anderes Land – das Land meiner Kindheit. Ich schreibe hier über eine bestimmte Zeit in der Geschichte des Landes und über meine Kindheit.
Sollte ich behandelt worden sein wie jemand, der „anders“ war, dann habe ich das selbst jedenfalls nie so empfunden. Welche Auswirkungen diese Erfahrung auf Kinder haben kann, war eine Lektion, die ich erst später lernte, als ich im Westen lebte. Dass man sogar als Insider noch ein Außenseiter sein kann, denn nicht nur zwischen verschiedenen Gruppen, sondern auch in Gruppen gibt es Vorurteile. Als Jugendliche ging ich für eine Zeit nach Australien und besuchte dort die High School. Das Bildungssystem ist zwar anders als das malayische oder britische, wies aber dennoch einige Merkmale auf, wie sie sich in den meisten ehemaligen Kolonien erhalten haben. Auch die australische Schule war eine konfessionelle, von einem Orden betriebene Schule, aber sehr progressiv in ihrer Haltung und in ihrem Lehrplan. Die kurze Zeit, die ich dort verbrachte, weckt in mir Erinnerungen an ein diverses, multikulturelles Umfeld, in dem sich die Kulturen nicht unbedingt vermischen. Das ist inzwischen anders geworden, denn in mancher Hinsicht ist die australische Gesellschaft von Multikulturalität, nicht immer aber von Interkulturalität geprägt. Die Einwanderung hat nicht automatisch zur Entstehung von vernetzten interkulturellen Gemeinschaften geführt. In manchen Gegenden leben die verschiedenen Kulturen sehr eng zusammen, in anderen nebeneinander her in Parallelgesellschaften.
Eine weitere Station meines Bildungsweges führte mich nach Großbritannien, nach Europa, zu dem das Land immer noch gehört, wenn es auch die Europäische Union verlassen hat. Dort habe ich den längsten und bedeutendsten Teil meiner Schulzeit und im Anschluss daran meine Berufsausbildung und -tätigkeit durchlaufen. Es ist ein Ort, der repräsentativ ist für mein „Ich“ und die mir aus den vorherigen Stationen meiner Schullaufbahn vertrauten Bildungslandschaften. Ein Ort, der zwar unverkennbar weiterhin vom Kolonialismus zutiefst geprägt ist, aber viele politische Umbrüche durchgemacht hat und im Zuge dessen umgedacht und neugedacht hat. Sein Bildungssystem hat inzwischen kaum noch Ähnlichkeiten mit dem, in dem meine Eltern, meine Geschwister und ich erzogen wurden.
Dennoch ist die Windrush-Generation in den Geschichtsbüchern so gut wie kein Thema, ebenso wenig wie die Erfahrungen der ethnischen Gemeinschaften aus den ehemaligen Kolonial- und Commonwealth-Ländern. Die Geschichte der Kolonialstaaten in Afrika und Asien – den Commonwealth-Ländern – wird nur sehr lückenhaft dargestellt, auf die Erfahrungen Asiens im Zweiten Weltkrieg nicht eingegangen. Die Besatzung Malaysias und eines Teils Südostasiens durch Japan wird aus britischer Sicht geschildert, die erlittenen Verluste und Verwüstungen in den asiatischen Ländern selbst nicht erwähnt. Zur Forderung einer Entkolonialisierung des Lehrplans gehört auch die Authentizierung des Lehrplans und der Fächer. Wer ein Thema behandelt und für wen – die Frage, an welche Rezipienten die Lehrbücher sich richten und ob die Darstellung einer Prüfung der lokalen Gemeinschaften standhält, ist meines Erachtens im Bildungswesen nicht ausreichend berücksichtigt worden.
Meine vorerst letzte Station ist Irland, wo ich neben meiner Promotion auch an der Uni unterrichte. Irland ist stolz auf sein nationales Bildungssystem. Nach Erlangung der Unabhängigkeit von Großbritannien 1916 hat das Land alle Anstrengungen unternommen, um im Bildungswesen ehemaliges Unrecht– die Beraubung seiner Sprache, seiner Kultur und seines Glaubens – wiedergutzumachen. Diesen Weg sind viele ehemalige Kolonien nach Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit gegangen. Allerdings stehen weitere erforderliche Änderungen des Curriculums auch in Irland noch aus, um die gesellschaftliche Diversität und den wachsenden Multikulturalismus widerzuspiegeln. Interkulturalität und Inklusion bleiben heftig umstrittene Themen in Hinblick auf die Kluft zwischen multikulturellen Klassenzimmern und monokulturellen Lehrerzimmern. Sowohl in Schule als auch im Wissenschaftsbetrieb fehlt es weiterhin an Identifikationsfiguren für junge Menschen mit bikulturellem oder anderem Hintergrund, dasselbe gilt für Lehrbücher und Unterrichtsmaterialien.
Ich hatte das Privileg, durch Reisen und das Leben in verschiedenen Ländern eine breit gefächerte Schulbildung zu erhalten. Meine Bildungsreise hat mir die Möglichkeit gegeben, unterschiedliche Perspektiven und pädagogische Ansätze kennenzulernen, die sicherlich dazu beigetragen haben, meine Weltsicht zu formen und meinen Horizont zu erweitern. Sie ermöglichte mir, rassistische Denkmuster, Diskriminierung und Vorurteile als solche zu erkennen und einzuordnen – wie auch die Blindheit, die in dieser Hinsicht weiterhin vorherrscht. Statt das zu akzeptieren, hat sich bei mir die Erkenntnis herausgebildet, dass ein Wandel unserer Bildungssysteme und der Ausbildung von Lehrer*innen längst überfällig ist.
Ich bin überzeugt, dass wir an einem Scheideweg im Bildungssystem stehen. Schüler*innen mit Migrationshintergrund und unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit haben ein Recht auf Zugehörigkeit in den Schulbüchern und in ihrer Gesellschaft. Auf eine Repräsentation ihrer Kultur, ihres Glaubens und ihrer Ethnie, nicht bloß als Alibifunktion, sondern als integraler Bestandteil des Alltags in westeuropäischen Gesellschaften.
Diversität wird als Gewinn empfunden, wenn es um Essen, Musik, Kultur und Reisen in fremde Länder geht, aber an Fremdenhass und Ethonzentrismus hat das nur bedingt etwas geändert. Sie bestehen weiterhin fort. Die Auswirkungen von Rassismus und Diskriminierung auf Heranwachsende und ihre Communities sind nur allzu sichtbar und ein deutlicher Hinweis darauf, dass noch viel zu tun ist. Dieser Arbeit haben sich viele meiner im Bildungswesen tätigen Kolleg*innen und Freund*innen verschrieben, indem sie sich für das Ende der Alterisierung („Othering“) und der Herstellung von inklusiven Lernumgebungen in globalen Zusammenhängen einsetzen. Das ist die wichtigste Aufgabe, vor der das Bildungssystem steht: die Schaffung inklusiver, unterstützender Lernräume, in denen Differenzen respektiert werden und eine wahrhaft dekolonisierte Sicht auf die Vergangenheit zur Normalität geworden ist – in den Unterrichtsmaterialien, für die Schüler*innen und im Lehrkörper. Wo nicht nur die Klassenzimmer, sondern auch die Lehrerzimmer ein Abbild der Realität und der Diversität sind.
Santhi Corcoran lehrt und promoviert am Mary Immaculate College der University of Limerick in Irland. Zuvor war sie im Bereich Gesundheitswesen, Sozialfürsorge, Sozialpsychologie sowie Kommunalentwicklungtätig. Der Schwerpunkt ihrer Lehrtätigkeit liegt auf den Feldern der Bildungssoziologie, Global Citizenship, Migration, Interkulturelle Studien und Postdoc-Programmen in kulturübergreifender Psychologie.
In ihrer Forschung befasst sie sich mit Interkulturellen Kompetenz und Dialog, Ethik, Psychologie, psychischer Gesundheitsfürsorge, Global Citizenship Education und Diversität. Sie hat in Großbritannien und Irland an der Entwicklung von Hilfspogrammen für Geflüchtete mitgewirkt.
Santhi ist Mitglied der Anna Lindh Foundation im Mittelmeerraum und Programmteilnehmerin bei Dialogperspektiven. Sie ist Mitbegründerin und Mit-Vorsitzende von Midwest Migrant Community Network (MWMCN), in Limerick, Irland, einem Netzwerk aus Bildungsinstitutionen, Communityprojekten, NGOs, Institutionen der Jugendbetreuung sowie der Gesundheits- und Sozialfürsorge, das sich für soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Integration einsetzt.
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