„Diasporische Identitäten“ was ist das eigentlich?

von Selin Aydin (Deutschland)

 

So oder so ähnlich verläuft die Verarbeitung eines Schreckensereignisses bei Menschen, die in einem Land leben, das ein anderes ist, als das Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern. Sie sind permanent damit konfrontiert unterschiedliche Welten und Lebensrealitäten parallel zueinander zu führen und auszubalancieren – was umso schwieriger ist, je stärker diese sich zum jeweiligen Zeitpunkt unterscheiden.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Dimensionen der Begriff „diasporische Identität“ (engl. diasporic identitites) mit sich bringt.

Das Wort „Diaspora“ verweist in seiner ursprünglichen Verwendung auf die Vertreibungsgeschichte von Juden und Jüdinnen. Es ist elementarer Bestandteil in der Identitätsbildung einiger jüdischer Bevölkerungsgruppen. In der modernen Diasporaforschung erfuhr die Begrifflichkeit eine zusätzliche semantische Öffnung: Elemente aus der jüdischen Diasporaerzählung wurden übernommen und mit situativen oder historischen Ereignissen in Beziehung gesetzt. Diasporische Gemeinschaften in diesem zusätzlichen Sinne sind ethnische und/oder religiöse Minderheiten, die über Generationen aufrechterhaltene Herkunftslandbezüge herstellen, die das eigene Selbstverständnis prägen.[1] Durch ihre grenzüberschreitende Loyalität und Verflechtungen unterscheiden sie sich von anderen Typen religiöser Minderheiten.

The term diaspora can be very general and all-embracing. This is both its strength and its weakness. Its purchase as a theoretical construct rests largely on its analytical reach; its explanatory power in dealing with the specific problematics associated with transnational movements of people, capital, commodities and cultural iconographies.

Nach Stuart Hall bilden sich die kulturelle sowie Diasporische Identitäten im Spannungsfeld zwischen der Orientierung an einem Herkunftsland, einer spezifischen Migrationsgeschichte, der Binnensolidarität innerhalb einer Diasporagruppe sowie den Lebensrealitäten in den Aufenthaltsländern.[2] Personen, die sich einer Diaspora zurechnen, fühlen sich oft untereinander durch Abstammung, Geschichte, Religion und/oder Kultur verbunden. Die Zugehörigkeit wird in der Regel familienbezogen und generationsübergreifend verstanden. Der Inhalt, die Relevanz und die Reichweite dieses Zugehörigkeitsgefühls genauso wie die Merkmale, auf die es sich bezieht, unterliegen einem stetigen gesellschaftlichen Wandel.

Die Konzeptionierung als Gruppe mit einer spezifischen diasporischen Identität bedeutet nicht, dass alle Mitglieder:innen einer Diaspora dieselben Auffassungen über diasporischen Identität vertreten. Viel naheliegender ist es, dass die diasporische Identität beständigen Aushandlungsprozessen und einem stetigen Wandel unterliegt.

Auf wissenschaftlicher Ebene wird in der Bundesrepublik Deutschland der letzten Jahre vermehrt über „Diasporische Identitäten“ gesprochen, wenn es um die Kontextualisierung mehrschichtiger Identitäten, deren Entwicklung und Herausforderungen geht. Spätestens seit dem Ende der von gewaltvollen politischen Spannungen und Verzerrungen geprägten 1990er Jahre steht vor allem das Narrativ der Nachkommen ehemaliger Gastarbeiter:innen im Vordergrund, die in diesem Kontext als „Lost Generation“ bezeichnet werden.[3]

Dabei wurde immerzu plakativ von „Problem-Mehmets“[4] gesprochen, die teilweise im minderjährigen Alter in das Herkunftsland ihrer Eltern abgeschoben wurden, obgleich sie in Deutschland sozialisiert waren. Deutsche Welle schreibt in einem Artikel von 1997, dass die Integrationswilligkeit von türkeistämmigen Personen in erster Linie daran scheitert, dass „ihre kulturelle Heimatverbundenheit, die Integration in die deutsche Gesellschaft aufhält oder gar drosselt.“[5] In den Jahren 2009 und 2010 erfuhr der Integrations- sowie Migrationsdiskurs ein erneutes Framing, in altbewährten Stilmitteln. Angestoßen von Thilo Sarrazin, rückte die „gescheiterte“ Integration von Migrant:innen in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit. In einem Interview wird die These aufgeworfen, dass einige Migrant:innen insbesondere diejenigen, die türkischer sowie arabischer Herkunft sind, weder integrationswillig noch integrationsfähig seien. Die Neologismen „Intergrationsverweigerer“ sowie „Kopftuchmädchen“ wurden vielfach zitiert und sind seither Bestandteil politischer Argumentationen besonders im konservativ-bürgerlichem und rechten Spektrum. Darüber hinaus richtete sich die die Aussage hinsichtlich der Migrant:innen türkischer beziehungsweise arabischer Herkunft an Menschen aus vornehmlich muslimischen Ländern.

Hier stauen sich unterschiedliche Fragen aneinander. Wie erleben Menschen mit diasporischer Identität das Ausschlachten politisch instrumentalisierter Themen auf ihrem Rücken? Stellt die emotionale Verbundenheit zu der Herkunftskultur der Eltern ein Hindernis im Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland dar? Was macht diasporische Identitäten so besonders und welchen Mehrwert geben sie der Mehrheitsgesellschaft?

Grundsätzlich kann jede diasporische Gemeinschaft beispielhaft dafür gesehen werden, wie sich diasporische Identität auch mit einem relativ losen nationalstaatlichen Bezug herausbilden, und über viele Jahre hinweg erhalten bleiben kann.

Die öffentlichen Diskussionen über und um die Themen des sog. „Integrationstheaters“[6] haben zweifelsfrei Auswirkungen in unterschiedliche Richtungen. Vor dem Hintergrund der Funktion politischer Debatten für gesellschaftliche Prozesse erscheint die Annahme, dass die Debatten erhebliche Auswirkungen auf die migrantisierte Menschen und ihre soziale Haltung und Positionierung haben, plausibel. So zeigte die vom Zentrum für Türkeistudien im Jahre 2021 durchgeführte Befragung von türkeistämmigen Zuwanderer:innen, dass der in den Jahren zuvor vorhandene Partizipationswille in der deutschen Gesellschaft deutlich zurückgegangen war. Ferner berichteten Befragte von Diskriminierungserfahrungen und dem wachsenden Gefühl unerwünscht zu sein. Klaus Bade, spricht sogar von einer mentalen Verletzung, die aus den öffentlichen Migrationsdebatten für die Betroffenen hervorgeht, da dessen Inhalte und Forderungen die Migrant:innen entmenschlichen und ausschließlich in der Bringschuld sehen. Bei der Konsequenz und dem Umgang (coping mechanisms) mit persönlichen (Diskriminierungs-)Erfahrungen können zwei Typen dargestellt werden, die am häufigsten auftreten: diejenigen die sich durch den öffentlichen Diskurs isolieren, welches teilweise eine Selbst- und Re-Ethnisierung zur Folge hat und diejenigen, die den Diskurs als Anhaltspunkt für einen stärkeren Bezug zu Deutschland annehmen. Die Isolation beziehungsweise die Abgrenzung von der Gesamtgesellschaft aufgrund des Diskurses erscheint in zweierlei Form. Einige erachten entweder den Diskurs für sich selber als nicht (mehr) relevant, aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen oder sie nehmen andere Migrant:innengruppen als Projektionsfläche für die unzureichende Dynamik, meistens jene türkischer oder arabischer Herkunft.
Letzteres sei besonders auffallend innerhalb der akademisch gebildeten Gruppierung, aus der Türkei zu beobachten, welche sich von dem herrschenden Integrationsdiskurs ausnehmen und sich gleichzeitig von den ehemaligen Arbeitsmigrant:innen abgrenzen, in dem sie diese Verantwortlich für die ihrer Meinung nach unzureichend gute Reputation der Türkei beziehungsweise der Türk:innen in Deutschland machen. In der Migrationsforschung wird in dem Zusammenhang von einer sog. „Distinktionsstrategie“ gesprochen, mit dem Ziel der Aufwertung des Selbstbildes mittels der Abwertung anderer. Darüber hinaus wird so auch die Relevanz der Verflechtung von sozialer Herkunft und Bildung deutlich, da die an die (politische) Sozialisierung gekoppelten migrationsspezifischen Diskurswahrnehmungen für die Interpretation und Annahme beziehungsweise Umgang mit dem Thema ausschlaggebend sind.

Migration kreiert an dieser Stelle in einem Fremdzuschreibungsprozess eine neue Art der diasporischen Identität. So ist beispielsweise die Identiät für Türk:innen in der Türkei bereits vorgefertigt und allgegenwärtig bekannt. Interessant ist am vorliegenden Beispiel auch, dass die Migration nicht nur im Aufnahmeland, sondern aufgrund der regelmäßigen Aufenthalte im Herkunftsland der Eltern im Sinne einer transnationalen Praxis, zu Fremdzuschreibungen führt, die wiederum in die eigene diasporische Identitätskonstruktion einfließen. So herrschen besonders im Kontext türkeistämmigen Personen aus Deutschland in der Türkei ganze Meme-Genres und Schmähkategorien, die sich über ihre Sprache, Aussehen und traditionelle Lebensart belustigen. Anderson fasste die Herausbildung von Identität im ständigen Wechsel zwischen Fremd- und Selbstzuschreibungen wie folgt zusammen: „Identitätsbildung in der Diaspora wird also auch davon bestimmt, wie man von den anderen genannt wird. Die Bezeichnung der eigenen Identität hängt also von der Distanz von daheim ab. Diese gilt dann als kollektive Identität.“ Die ‚kollektive Identität’ ist demnach nicht primär in ihrer Sprache o.ä. zu finden, sondern in der Zusammensetzung der individuellen Zuschreibungen der verschiedenen Mitglieder, und in der Art und Weise wie sie die Community prägen und diese zusammenhalten. In einer derartigen Konzeptionalisierung von Diaspora werden Aushandlungsprozesse rund um die diasporische Identität erst sichtbar gemacht. Im Gegensatz zu anderen Konzeptionierungen von Diaspora, in denen derartige Aushandlungsprozesse gleichgesetzt werden mit einer existenziellen Infragestellung der Diaspora nach dem Motto: ‚ohne kollektive Identität keine Diaspora‘.

Die Beispiele von Minderheiten, deren Staatsbürgerschaft ihre kulturelle oder ethnische Identität nur teilweise abbilden kann, können demnach als Möglichkeit gesehen und als Beispiele für plurale sowie hybride Identitätskonstruktionen herangezogen werden, die die ‚Mehrheitsgesellschaft’ einmal mehr zum Überdenken starrer Identitätspolitiken und -praktiken anstoßen sollte.

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[1] Vgl. Dr. Nieswand unter: https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/264009/was-ist-einediaspora/#:~:text=Diasporische%20Identit%C3%A4ten%20bilden%20sich%20im,den%20Lebensrealit%C3%A4ten%20in%20den%20Zuwanderungsregionen(Abrgerufen am 07.02.2023).

[2] Vgl. Hall, Stuart unter: https://phdessay.com/stuart-halls-cultural-identity-and-diaspora/ (Abgerufen am 05.02.2023).

[3] Vgl. Dr. Yıldız, Yalçın in: https://www.migazin.de/2010/03/23/man-kann-bei-den-alteren-migranten-von-einer-verlorenen-generation-sprechen/2/ (Abrufdatum: 06.02.2023)

[4] Vgl. Marx, Bettina unter: https://www.dw.com/de/mehmet-kehrt-zur%C3%BCck/a-593182 (Abrufdatum: 07.02.2023)

[5] Ebd.

[6] Siehe Max Czollek in „Desintegriert euch!“ 2019.

 

Selin Aydin studierte Politik und Recht an der FAU in Erlangen. Sie ist derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe Universität in Frankfurt am Main tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in folgenden Bereichen: Anti-Muslimischer Rassismus, Resilienz- und Empowermentstrategien sowie Diasporische Identitäten. Nach ihrem Masterabschluss arbeitete sie in unterschiedlichen Unternehmen unter anderem in der Interessenvertretung und Strategieentwicklung in Bezug auf Diversität. Aktuell arbeitet sie in einem Projekt des Bundesministerium des Inneren (BMI) zu „Muslimische Perspektiven auf Muslim- und Islamfeindlichkeit“ und liebt guten Kaffee mit einem Schuss Hafermilch über alles!

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