Dialog in der Praxis: Dienst als Reserveoffizier in der Bundeswehr

Dialog in der Praxis: Dienst als Reserveoffizier in der Bundeswehr

Im Frühjahr 2010, die Abiturklausuren lagen gerade hinter mir, erhielt ich den Einberufungsbefehl, damals herrschte noch die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland. Ich wusste zwar, dass mein Vater, meine Onkel und einige Freunde unserer Familie, die ihren Wehrdienst in den 1980er- und 1990er-Jahren abgeleistet hatten, prägende Erfahrungen damit verbanden, aber sie hatten nie versucht, Einfluss auf meine Entscheidung dafür oder dagegen zu nehmen. Durch diese Prägung stellte ich den Sinn des Wehrdienstes jedenfalls nicht grundsätzlich in Frage und da ich ohnehin nicht genau wusste, was ich studieren wollte, sah ich auch keinen guten Grund, meiner Bürgerpflicht nicht nachzukommen.

Im Sommer 2010, an meinem 19. Geburtstag, begann mein sechsmonatiger Grundwehrdienst. Rückblickend kann ich die Einschätzung meiner Verwandten nur bestätigen: Es war tatsächlich eine prägende Erfahrung fürs Leben. Auch wenn ich, um ganz ehrlich zu sein, auf den Hindernislauf und das morgendliche Wecken um 4:30 Uhr gut und gerne hätte verzichten können. Aber das Zusammenleben, die Ausbildung und das Training mit über hundert jungen Männern unterschiedlicher Herkunft aus ganz Deutschland mit verschiedenen Einstellungen, Werten und religiösen Überzeugungen haben meinen Horizont erweitert und mich aus meiner eigenen „Blase“ herausgeholt. Dass sich drei Fremde (die dann zu Kameraden und Freunden wurden) ein winziges Zimmer teilen mussten, war zwar nicht immer angenehm, aber gut, um Rücksichtnahme und Kompromissfähigkeit zu lernen.

Als das halbe Jahr vorüber war, verließ ich die Bundeswehr und ging an die Uni, um Geschichte und Politikwissenschaft zu studieren. Dort fiel mir in Seminaren und Diskussionen mit Kommilitonen auf, dass in Bezug auf die Bundeswehr und das Militär im Allgemeinen große Unwissenheit und Voreingenommenheit besteht. Die meisten hatten sich ihre Meinung nicht aufgrund von Faktenwissen oder eigenen Erfahrungen gebildet, sondern aus subjektiven Eindrücken und Vorurteilen. Dass die Skepsis dem Militär gegenüber in Deutschland größer ist als in anderen Ländern, erklärt sich aus der deutschen Geschichte und den von der Wehrmacht begangenen Verbrechen während der NS-Zeit – und ist daher durchaus berechtigt und verständlich. In der Nachkriegszeit wurde sehr lange nicht öffentlich über die Tradition, die Rolle und die Verantwortung der Bundeswehr in der Gesellschaft diskutiert und man ging diesen Fragen regelrecht aus dem Weg. Es führt aber dazu, dass die Bundeswehr als Institution und die dienenden Soldaten mitunter in eine schwierige Lage geraten. Einerseits ist die Bundeswehr im deutschen Grundgesetz verankert und wesentlicher Bestandteil der Einbindung Deutschlands in internationale Allianzen. Andererseits wird die wichtige Arbeit, die sie und die Menschen, die in ihr dienen, leisten, nur selten angemessen gewürdigt.

Wenn ich meinen Wehrdienst erwähnte, stieß ich meist auf Verwunderung und Unverständnis: „DA warst du? Warum denn?“ oder „So siehst du ja überhaupt nicht aus!“ Als wir im Rahmen eines Seminars ein Feldlager der Bundeswehr besuchten, verweigerten einige Student*innen, die ansonsten immer Toleranz und Dialog predigten, das Gespräch mit den Soldat*innen. Ich beschloss daraufhin, nicht mehr über meine (zugegebenermaßen kurzen) Erfahrungen beim Militär zu sprechen, um den Vorurteilen und dem Rechtfertigungsdruck zu entgehen. Aber mir wurde auch klar, dass gerade Dialog und Begegnungen wichtig wären und dass es dafür Vermittler*innen zwischen der zivilen und der militärischen Realität bedürfte. Und so beschloss ich, neben meinem Masterstudium die Ausbildung zum Reserveoffizier zu durchlaufen.

Als aktiver Reservesoldat ist man Grenzgänger zwischen Zivilleben und Soldatentum und im Laufe eines Jahres für bestimmte Zeiten (von wenigen Tagen bis hin zu Wochen) im Dienst. Während der Dienstzeit trage ich die reguläre Uniform und habe einen militärischen Rang. In der Regel wird man einer Einsatzeinheit zugeordnet, die so gut wie möglich auf den zivilen Beruf und die Fähigkeiten des Reservisten abgestimmt ist. So wurde ich nach Beendigung der Reserveoffiziersausbildung im Jahr 2019 (und etwa zeitgleich mit Beginn meiner Promotion über Antisemitismus an deutschen Hochschulen) als Dozent an die Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg versetzt. Dort halte ich ein paarmal pro Jahr Seminare über Geschichte, Politologie und Antisemitismusforschung für deutsche und internationale Offiziere ab.

Die Dozententätigkeit beim Militär findet in einem durchstrukturierten Arbeitsumfeld statt. In der Regel beginnt der Unterricht nicht nur früh (und pünktlich), sondern die Offiziere nehmen auch hoch motiviert daran teil. Sie halten die Regeln und Vorschriften ein und legen ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein an den Tag. Die Seminararbeiten werden gewissenhaft erarbeitet und Präsentationen in geschliffener Sprache vorgetragen. Für die Offiziere ist es eine ungewohnte Erfahrung, von einem vergleichsweise jungen Dozenten ohne nennenswerte militärische Erfahrung unterrichtet zu werden, der zudem rangniedriger ist als sie selbst. Aber obwohl ich meinen Unterricht manchmal sogar in Zivilkleidung abhalte, fühle ich mich von ihnen stets akzeptiert, meine Ansichten werden respektiert und wertgeschätzt. Umgekehrt lerne auch ich viel von den gut durchdachten, oft praxisorientierten Beiträgen der Offiziere. Ihre Fragen und Anmerkungen tragen dazu bei, die Dinge auf den Punkt zu bringen: In einem Seminar über Antisemitismus und die Covid-Pandemie fragte ein Offizier etwa, was er konkret tun könne, um die Verbreitung von Antisemitismus und Verschwörungsmythen bei seinen Untergebenen zu verhindern. In der Diskussion wurden dann über eine Stunde lang verschiedene Maßnahmen wie politische Bildung oder Begegnungsformate erörtert und darüber nachgedacht, ob Strafen sinnvoll sein können und wenn ja, welche. Ein anderes Seminar hatte die antisemitischen Narrative zum Thema, die von Putin und Lawrow im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verbreitet werden. Ich denke, das deutsche Militär sollte in besonderer Weise dafür sensibilisiert werden und in der Lage sein, solche Narrative als das zu erkennen, was sie sind.

Mein Gesamteindruck ist, dass die Soldaten, mit denen ich zusammenarbeite, sehr offen sind für andere Perspektiven und Denkansätze aus dem nicht-militärischen Umfeld. Gelegentlich wird aber eine gewisse Enttäuschung oder Unzufriedenheit der Offiziere darüber erkennbar, dass ihnen die Zivilgesellschaft und insbesondere der akademische Betrieb nicht mit derselben Aufgeschlossenheit begegnet und ihre Sichtweise und Perspektive dort kaum zu Wort kommt und berücksichtigt wird. Insofern nehmen sie akademische Debatten einerseits als Diskussion von Luxusproblemen wahr, die mit der Realität der praktischen militärischen Arbeit kaum etwas zu tun haben, lassen sich aber andererseits gerne herausfordern von Gedanken und Anregungen, die nicht ihrem gewohnten Umfeld und Routinen entsprechen. Ich finde mich also in der sehr interessanten und spannenden, aber manchmal auch problematischen Position eines Vermittlers zwischen militärischem und zivilem Leben wieder. Als Bindeglied zwischen diesen beiden Seiten versuche ich, zur gegenseitigen Verständigung beizutragen. An der Bundeswehrakademie versuche ich, das Bewusstsein zu schärfen für Themen, Perspektiven und Ansätze, die im Militär eher selten gehört werden. Als Mitglied der Zivilgesellschaft und im akademischen Milieu werbe ich dafür, mit Angehörigen des Militärs zu sprechen statt über sie. Reservisten haben da eine wichtige Vermittlerfunktion, sie ermöglichen den Dialog zwischen den sehr unterschiedlichen Sphären des Militärischen und des Zivilgesellschaftlichen und können das gegenseitige Verständnis verbessern.

Das Gesagte lässt sich auf viele andere Bereiche und Milieus übertragen, seien es Berufe, Religionen, Ethnien oder andere Gemeinschaften, denen wir angehören. Überall sind Menschen gefragt, die den Dialog zwischen unterschiedlichen Gruppen fördern und ermöglichen. Oft sind dafür nicht einmal besondere Anstrengungen erforderlich. Eine Begegnung, ein kurzes Gespräch oder eine Einladung können schon viel bewirken. Das Einzige, was es braucht, ist Toleranz gegenüber anderen Meinungen und den Willen, andere Perspektiven einzunehmen. Wenn man aktiv wird und in Dialog mit anderen tritt, kann man geradezu dabei zusehen, wie Vorurteile sich abbauen. Das ist unglaublich befriedigend und bereichernd.

 

Kurzbiografie 

Johannes war 2021/2022 Programmteilnehmer bei Dialogperspektiven. Nach einem Studium der Geschichte, Politikwissenschaften, Internationalen Beziehungen sowie der Friedens- und Konfliktforschung in Göttingen und Tübingen arbeitet er derzeit an seiner Promotion über Antisemitismus an deutschen Universitäten. Er ist aktiver Reservesoldat und Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.

 

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