Umfrage zu Pluralen Erinnerungskulturen
Vom 1. August – 8. Oktober führte die Coalition for Pluralistic Public Discourse (CPPD) in Kooperation mit dem House of Participation des FZI Forschungszentrum Informatik eine Online-Umfrage zu Pluralen Erinnerungskulturen durch.
Die Ergebnisse weisen eindeutig auf das Potenzial von Erinnerungskultur hin, einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung von Gesellschaften zu leisten. So kann Erinnerungskultur Bereiche wie Demokratisierung und Partizipation fördern und konstruktive Kritik am Status quo der Erinnerungslandschaften üben – in Deutschland und darüber hinaus.
Im Zentrum standen die Wahrnehmungen der Befragten zum Thema Pluraler Erinnerungskultur. Der nachfolgende Kurzbericht gibt zunächst einen Überblick über das Design der Umfrage und fasst zentrale Ergebnisse zusammen.
Methodik
Die Befragten beantworteten die Umfrage online, hauptsächlich mit Fragen in geschlossenen Formaten, bei denen Antworten vorgegeben wurden oder bei denen sich die Beteiligten anhand einer Likert-Skala zu einer Aussage positionieren sollten (z.B. „Erinnerungskultur ist mir wichtig“). Zudem gab es Fragen im offenen Format und als Freitextantworten (z.B. „Gibt es historische Ereignisse, für die Sie sich mehr Aufmerksamkeit in der deutschen Erinnerungskultur wünschen?“). Die Teilnahme an der Umfrage war freiwillig und anonym. Die Umfrageteilnehmenden wurden über verschiedene Kanäle und Netzwerke der CPPD erreicht. Die quantitative Umfrage als nicht-repräsentative Umfrage konzipiert und ausgewertet.
Demografie
Es nahmen insgesamt 744 Personen an der Umfrage teil. Ein Großteil der Befragten gab an, weiblich zu sein (68,10%), gefolgt von männlich (21,60%). Das Alter der Befragten verteilte sich zu einem Großteil auf die Altersstufen 27-42 Jahre (60,8%) und 43-58 Jahre (21,4%). Die Altersgruppen 18-26 Jahre (12,4%) und 59-78 Jahre (5,4%) waren nur gering vertreten.
Mit Hinblick auf ihren höchsten formalen Bildungsabschluss besaß der Großteil einen Master/Magister/Diplom (54,8%), einen Bachelorabschluss (21,6% Bachelor) oder Abitur (12,6%).
Bei der Zugehörigkeit zu den Religionsgemeinschaften gab eine Mehrheit an, konfessionslos (56,20%) zu sein, gefolgt von der Zugehörigkeit zur evangelischen (13,40%) und der römisch-katholischen Kirche (6,85%). Ein knappes Drittel der Umfrageteilnehmenden gab an, selbst oder in der eigenen Familie über eine Migrationserfahrung zu verfügen (28,2%), ein Großteil (67,3%) verneinte.
Darstellung zentraler Ergebnisse
Allgemeine Einstellungen zu Erinnerungskultur
Die Auswertung ergab, dass Erinnerungskultur einer großen Mehrheit der Befragten wichtig ist (stimme voll zu: 77,90%; stimme eher zu: 19,61%).
Die Umfrageteilnehmenden rechneten ein auffallend breites Spektrum an Erinnerungsformen dem Bereich von Erinnerungskultur zu: Museen & Ausstellungen (94,5%), Privates Erinnern & Familienerzählungen (90,7%), Veranstaltungen zum Thema Geschichte und Erinnerung (90,7%), Geschichtsunterricht (88,3%), offizielle Gedenktage & politische Reden (86,3%) sowie Denkmäler & Statuen (85,9%). In den zusätzlich eingeholten Freitextantworten wurden zudem Demonstrationen & Aktivismus, Medien, Kunst & Theater sowie dezidierte Erinnerungsorte wie Gedenkstätten genannt.
Auch zu den Akteur*innen, die Erinnerungskultur gestalten, zählten die Befragten Künstler*innen (93,2%), Aktivist*innen (92,2%), NGOs/Initiativen (90,9%), Politik (88,9%), Individuen (88,2%) und Religionsgemeinschaften (75,2%).
Erinnerungskultur im Rahmen von Gesellschaft und Politik
Aus den Ergebnissen der Umfrage war erkennbar, dass eine große Zahl der Befragten Erinnerungskultur als inhärent politisch versteht. (stimme voll zu: 85,40%; stimme eher zu: 11,16%). Dabei wurde ersichtlich, dass die Befragten Erinnerungskultur als wichtig für das nationale Selbstverständnis einstufen (stimme voll zu: 79,50%; stimme eher zu: 15,88%).
Eine große Mehrheit der Befragten gab an, dass Erinnerungskultur einen Beitrag in Demokratisierungsprozessen von Gesellschaften leistet (stimme voll zu: 58,20%; stimme eher zu: 29,20%). Vor diesem Hintergrund antwortete ebenfalls ein Großteil bei der Aussage positiv, dass sich Erinnerungskultur dazu eigne, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken (stimme voll zu: 56,20%; stimme eher zu: 33,60%).
Positionierungen zur deutschen Erinnerungskultur
Hinsichtlich der Erinnerungskultur im deutschen Kontext gab ein Großteil der Umfrageteilnehmenden an, sich für die deutsche Geschichte zu interessieren (stimme voll zu: 74,9%; stimme eher zu: 22,35%). Dabei sah sich eine große Mehrheit der Befragten mit einer dominanten Erinnerungskultur konfrontiert (stimme voll zu: 44,9 %; stimme eher zu: 34,9%). Eine große Mehrheit gab überdies an, dass sich Deutschland gerne als „Erinnerungsweltmeister“ sieht (stimme voll zu: 58,6%; stimme eher zu: 25%). Bei der Aussage, Deutschland habe seine Geschichte gut aufgearbeitet, positionierte sich jedoch eine knappe Hälfte im negativen Bereich (stimme eher nicht zu: 34,6%; stimme gar nicht zu: 14,7%).
Mitgestaltungspotenzial
Mit Blick auf die Aussage „Ich habe das Gefühl, dass ich Erinnerungskultur in Deutschland mitgestalten kann“, ordnete sich eine Hälfte dem neutralen (19,40%) sowie negativen Bereich (stimme eher nicht zu: 23,49%; stimme gar nicht zu: 6,85%) zu. Die Umfrageergebnisse zeigen zudem, dass eine Mehrheit beabsichtigt, sich mehr im Bereich von Erinnerungskultur zu engagieren (stimme voll zu: 28,40%; stimme eher zu: 35,50%).
In einem Freitextfeld konnten die Befragten angeben, in welchen Kontexten sie Erinnerungskultur mitgestalten konnten und können. Es zeigte sich, dass der private und semi-öffentliche Bereich – das Sprechen in der Familie, mit Freund*innen und Kolleg*innen sowie das Teilen und Liken von Beiträgen auf digitalen Plattformen – wichtige Räume der Mitgestaltung darstellen. Ähnlich regelmäßig wurden politisches oder ehrenamtliches Engagement (z.B. Teilnahme an Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen sowie die Arbeit in Vereinen) angeführt. Darüber hinaus wurden professionelle und hauptamtliche Tätigkeiten angeführt, die von Bildungsarbeit zu wissenschaftlicher, journalistischer und publizistischer bis hin zu künstlerischer Arbeit reichten. Weitere Antworten ließen sich als stärker rezipierende Tätigkeiten unter den Stichworten Schulunterricht und Universität (im Sinne von rezipierten Bildungsinhalten), Museumsbesuchen und Medienkonsum fassen. Vereinzelt äußerten Befragte Kritik an der deutschen Erinnerungskultur oder gaben an, diese nicht mitzugestalten bzw. nicht mitgestalten zu können.
Identifizierte Leerstellen im kollektiven Gedächtnis in Deutschland
Aufholbedarf identifizierten die Befragten insbesondere in der Auseinandersetzung mit folgenden Themen und hinsichtlich der Aussage „An folgende Ereignisse wird in Deutschland ausreichend erinnert“: Deutscher Kolonialismus (stimme eher nicht zu: 51,8 %; stimme gar nicht zu: 40,9 %), gefolgt von rassistischen Anschlägen, z.B. Mölln, Solingen und weitere (stimme eher nicht zu: 53,4 %; stimme gar nicht zu: 31,4 %) sowie antisemitischen Anschlägen nach 1945 (stimme eher nicht zu: 49,9 %; stimme gar nicht zu: 31,7 %). Ein ausgeglicheneres Bild ergab sich in Bezug auf die deutsche Wiedervereinigung und die Zeit danach (stimme eher nicht zu: 37,8 %; stimme gar nicht zu: 8,3 %) sowie in Bezug auf Nationalsozialismus (stimme eher nicht zu: 32,3 %; stimme gar nicht zu: 3,8 %) und Shoah (stimme eher nicht zu: 32,7 %; stimme gar nicht zu: 5 %).
In einem Freitextfeld konnten die Befragten zusätzlich angeben, für welche historischen Ereignisse sie sich mehr Aufmerksamkeit wünschen. Die Auswertung der eingeholten Daten resultierte in einer qualitativ wichtigen Unterscheidung zur quantitativen Erhebung: Ein großer Teil gab hier Nationalsozialismus, Ereignisse des zweiten Weltkrieges, Shoah und vielfältige Betroffenengruppen der NS-Verfolgung sowie Aufarbeitung der NS-Zeit als erinnerungsrelevante Ereignisse an. Gefolgt wurde dies von dem artikulierten Wunsch, rechte Gewalt seit 1945, Kolonialismus sowie marginalisierte und migrantische Perspektiven, z.B. die Geschichte der Arbeitsmigration und gesellschaftlicher Diversität, stärker zu fokussieren. Als wichtiger Zusatz erwiesen sich zahlreiche Forderungen, queere und feministische Geschichte stärker zu inkludieren. Ereignisse der deutschen Geschichte vor 1933 wurden zwar genannt, waren in ihrem Auftreten aber ebenso wie die Geschichte der DDR und der Wiedervereinigung/Wende vergleichsweise unterrepräsentiert.
Dynamiken von Erinnerungskultur und Pluralisierung
Ein Großteil der Befragten stimmte darin überein, dass sich Erinnerungskultur andauernd verändert (stimme voll zu: 46,50%; stimme eher zu: 38,80%). So gab auch eine Mehrheit an, es sei wichtig, die deutsche Erinnerungskultur an gesellschaftliche Veränderungen, z.B. Globalisierung, demographischer Wandel, anzupassen (stimme voll zu: 66,10%; stimme eher zu: 26,07%). Auch hinsichtlich der Aussage „Unsere gesellschaftliche Diversität muss sich auch in der Erinnerungskultur spiegeln“, positionierte sich ein Großteil positiv (stimme voll zu: 80,40%, stimme eher zu: 15,61%). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass migrantische Erfahrungen in der deutschen Erinnerungskultur als nur unzureichend präsent bewertet wurden (stimme eher nicht zu: 53,30%; stimme gar nicht zu: 24,60%).
Ausblick
Aufbauend auf den Umfrageergebnissen ist die CPPD an der Gestaltung einer repräsentativen Umfrage interessiert, die den gesamtgesellschaftlichen Tendenzen mit Blick auf Plurale Erinnerungskulturen weiter nachgeht.
Danke an das Team des House of Participation – FZI Forschungszentrum Informatik, insbesondere an Dr. Jonas Fegert, Alicia Wittmer, Jasper Büll und Lennard Nicolaisen.
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