Foto © Ulf Aminde
Am 9. Juni 2004 explodierte in der Keupstraße in Köln Mülheim eine Nagelbombe, deponiert im Gepäckträgerkoffer eines Fahrrades. Das Rad war dort kurz vor dem Tatzeitpunkt vor einem Friseurgeschäft abgestellt worden. Zahlreiche Menschen wurden verletzt, einige von ihnen sehr schwer. Für die Betroffenen und Überlebenden waren der Anschlag und seine Folgen einschneidend – und bleiben es bis heute.
Die Aussagen von Zeug*innen, die Art der Tatbegehung und die Auswahl des Ortes wiesen früh und deutlich darauf hin, dass es sich um einen rassistischen Anschlag gegen die Menschen auf der Keupstraße handeln musste. Das vermerkte auch eine erste polizeiliche Lagemeldung bereits unmittelbar nach dem Anschlag. Kaum zwei Stunden nach der Tat erhielt das ermittelnde Landeskriminalamt aus dem NRW-Innenministerium allerdings die Aufforderung, den Bericht und die darin beschriebene Einschätzung zum Tatmotiv zu ändern. Die Formulierung, der Anschlag könne den Hintergrund „terroristischer Gewaltkriminalität“ haben, sei zu streichen.
Die Ermittlungen richteten sich von da an über sieben Jahre ausschließlich gegen die Menschen in der Keupstraße. Die Betroffenen berichteten später etwa von stundenlangen und einschüchternden Verhören, erfuhren von Bespitzelungen und Abhörmaßnahmen gegen sich oder beschrieben, wie sie unter Drohungen zu Aussagen gedrängt wurden. In der Medienöffentlichkeit verschärften rassistische Zuschreibungen gegen die Betroffenen die Folgen der verdächtigenden und stigmatisierenden Ermittlungsarbeit: Aus Opfern wurden Täter:innen gemacht – bis zur Selbstenttarnung des NSU am 4. November 2011.
Seitdem haben Politiker:innen den Betroffenen und Überlebenden Aufklärung versprochen. Dutzende Untersuchungsausschüsse und der Prozess am Oberlandesgericht in München haben sich mit dem rechtlichen Nachweis der Täter:innenschaft und mit den Ermittlungen zum rechten Terror des NSU beschäftigt. Allerdings wurden entscheidende Fragen nicht beantwortet – mitunter sogar nicht einmal gestellt. Weder zu den Strukturen, Mittäter:innen und Helfer:innen des NSU vor Ort und bundesweit, noch zur Verantwortung für die verletzenden und rassistischen Ermittlungen nach dem Anschlag.
Die Betroffenen und Überlebenden kämpfen seit vielen Jahren für Aufklärung, für Konsequenzen und für ein würdiges Erinnern und Gedenken. Nach den Wünschen der Betroffenen soll unweit des Tatorts in der Keupstraße ein Denkmal und lebendiger Ort des Erinnerns entstehen: ein Mahnmal, das „an die rassistischen Anschläge des NSU in Köln erinnert und die Geschichten der Betroffenen und der Kämpfe gegen Rassismus und Antisemitismus sichtbar macht“ (Initiative Herkesin Meydanı). Bis das Mahnmal wie geplant umgesetzt ist, haben Betroffene und solidarische Menschen mit der Initiative „Herkesin Meydanı – Platz für Alle“ nur wenige Meter entfernt einen „Raum für Alle“ bezogen – denn es braucht einen Ort, der dem notwendig langen Atem für die Kämpfe um Erinnern, Anerkennen und Verändern für eine aufrichtige Gesellschaft der Vielen einen Raum gibt.
Zu NSU-Watch
Die rassistische Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) markiert eine Zäsur in der bundesrepublikanischen Geschichte. Die Taten des NSU, sein Netzwerk und die Rolle der Behörden sind auch nach dem Ende des Münchener NSU-Strafprozesses längst nicht aufgeklärt.
NSU-Watch wird von einem Bündnis aus rund einem Dutzend antifaschistischer und antirassistischer Gruppen und Einzelpersonen aus dem ganzen Bundesgebiet getragen, die seit über einem Jahrzehnt zum Themenkomplex arbeiten.
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