24. Februar 2022: Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine

Ein Auszug aus dem Ukraine-Tagebuch von Jelena Jeremejewa

 

Vor dem Hintergrund des Beginns des Ukraine-Krieges vor einem Jahr sowie weiterer tagespolitischer Gewalt und Herausforderungen stellt sich auch die Frage, wie ein “Erinnern in der Gegenwart” gelingen kann. Im Folgenden ist ein Auszug aus dem Ukraine-Tagebuch „Seit September will ich nach Kiew“ von Jelena Jeremejewa zu lesen, das 2022 im Verlag parasitenpresse erschienen ist.

24.2.

Klassisch um 6:30 klingelt mein Telefon. „Es hat angefangen!“ Mein Bruder ist dran, dem klar geworden ist, dass vor unserem Haus nicht nur die Oper sondern in 100 Metern auch das SBU, der ukrainische Sicherheits- und Geheimdienst Gebäudekomplex liegt und alle bereits evakuiert wurden. „Packt die Sachen und seid in 10 Minuten unten.“ Ich spüre wie alles, was vor diesem Anruf lag, zu zerfallen beginnt … es bröckelt und bröckelt und bröckelt und bröckelt und zerfällt in zusammenhanglose Stücke, die ich nicht mehr zusammen bekomme.

Völlig leere Innenstadt, gedämpfte Geräusche, das Leben ist gewichen – leeres Haus, verängstigte Concierge, und Fassungslosigkeit in den Gesichtern. Online bekomme ich kein Zugticket und ich spüre ein starkes Verlangen noch mal durch meine Stadt zu gehen … zum Bahnhof, um vielleicht doch ein Ticket zu bekommen. Jemand ist zum Beten in Volodymirskij Sobor und ein großer weißer Hund wartet, angebunden an eine Bank. So würdevoll … und friedlich.

Die Leere ist gespenstisch, Menschen mit Koffern, Taschen, nicht wissend wohin. Das sind Koffer, die man sonst auf den Flughäfen sieht, wie sie über glatte Böden der Flughäfen rollen, hier und heute wirken sie deplatziert … wie auch ich … Prospekt Pobedy, voll.

11:33 Rauchgeruch in der Innenstadt – jetzt glaube ich zu verstehen, was „hier und jetzt“, diese Abstraktion eigentlich bedeutet. Das kann einem keine Mediationspraktik vermitteln. Mein Bruder ist mit seinem, für ukrainische Straßen völlig ungeeigneten Fahrzeug in Kiew. Mein Vater hat nicht gepackt, kocht Haferschleim und schaut Fernsehen. Auf die Aufforderungen zu packen – Weigerung. Ich stelle meinen Haferbrei auf, meine Hände schnippeln Obst, Datteln, raspeln zwei Nüsse und suchen Leinsamen im Kühlschrank. Beim Essen merke ich, dass ich nichts schmecke und Schwierigkeiten habe, das Essen herunterzuschlucken. Jetzt weiß ich, wie sich Angst anfühlt – ich spüre meinen Herzschlag, das sonst unmerkliche Pumpen wird vordergründig, ich habe Schwierigkeiten, Luft zu holen, als ob etwas Großes und Schweres auf meiner Brust lasten würde. Ich gehe von der Küche ins Schlafzimmer, vom Schlafzimmer ins Bad, dann wieder in die Küche, ich weiß nicht, was zu tun ist und was ich tue. Sammle gefiltertes Wasser in alle möglichen Gefäße, ich lasse das Bad voll. Ich telefoniere und versuche, alle in Berlin zu beruhigen. Der Himmel ist bedeckt, den vertrauten Ausblick kann ich nicht genießen, ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich ihn permaU nent abscanne. Psalm Nr. 90.

Meine Expeditionstasche ist gepackt, ich habe vor drei Tagen die neuen Bücher von Serhij Zhadan gekauft, auch von Lina Kostenko, und mir vorgenommen, mehr ukrainische Dichter und Schriftsteller zu lesen. Alles bleibt hier in Kiew, ich werde zurückkommen.

Das Auto ist voll, also muss ich meine Tasche umpacken – ich nehme meine Kleider mit, ein paar Rollis und einen Pullover, den ich mir in Lissabon gekauft habe. Jeans, Socken und Unterwäsche werden vergessen. Wir teilen uns mit meinem Papa eine REWE-Einkaufstasche, nehmen nur das Nötigste mit. Wir wollen morgen wieder kommen und Müll rausbringen. Heute ist es nur für eine Nacht, einfach raus aus der Stadt.

Ich hasse das, wenn ich energisch werden muss. Mein Bruder wird wütend, Sirenen heulen, ich werfe Papas Klamotten in den Koffer, er schaut hilflos und beschimpft uns, will bleiben. Wir überlegen, ob wir mit dem Aufzug fahren sollen. Es tut mir so leid, ihm das antun zu müssen, sein Viertel, sein Geburtshaus, sein Leben. Es ist seine zweite Evakuierung im Grunde. Die erste erlebte er als Zweijähriger vor 79 Jahren mit seiner Mutter, Großmutter und dem vierjährigen Bruder 1941. Damals fuhren sie tagelang in Viehwaggons vor den Nazis nach Slatoust, im Uralgebirge.

2022 sehen wir Menschen, die in Kiew bleiben, die kein Auto haben oder nicht fahren können, die mit ihren Haustieren und Koffern an der kleinen unterirdischen Garage ratlos dastehen und scheinbar auf jemanden warten, alles noch nicht fassen können. Ich traue mich nicht, ihnen in die Augen zu blicken. Wir stopfen noch die Tasche in den vollen Kofferraum und brechen auf. In dem Moment habe ich den Gedanken nicht gedacht, ob ich wieder kommen werde, ich habe keinen traurigen Blick aus dem Fenster geworfen, keine Träne vergossen. Aber das Gefühl war da, nur überlagert von der Sorge, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, Scham, niemanden mitnehmen zu können in eine vorübergehende Sicherheit.

Es dauert, bis wir aus der Stadt kommen, uns entgegen fahren Panzer, ukrainische Jungs sitzen oben und winken uns zu. Auch hier schaue ich in den Himmel und scanne ihn nach Flugkörpern ab … hört es irgendwann wieder auf oder ist mein Verhältnis zum Himmel für immer ruiniert? Um uns herum fahren Menschen wie wir, ebenfalls raus aus der Stadt, wir sind mit die letzten, die das Unmögliche lange genug für unmöglich hielten, bis es eintraf. Ich habe in Deutschland oft erklären müssen, ob Russisch und Ukrainisch ähnlich sind und die Menschen sich verstehen könnten. Gerade glaube ich selbst etwas nicht verstanden zu haben und es liegt nicht an der Sprache, sondern an etwas anderem.

Wir fahren zu einer befreundeten Familie. Riesenhaus, Riesengartenanlage, Pool, Seen und Golffelder, Kirschgärten, Bienenstöcke, zwei wunderschöne Deutsche Schäferhunde, die eingesperrt werden müssen, damit wir aussteigen können. Als wir ankommen, sehen wir mehrere Helikopter vorbeikommen, die erstaunlich niedrig fliegen. Im Haus eine sehr große Familie, Söhne, ihre Frauen, Geschwister, Kinder und Schwiegereltern sitzen im Erdgeschoss und ohne Licht. Erwachsene schauen Fernsehen, telefonieren, essen und trinken. Kinder rennen herum, spielen auf dem iPad Kriegsspiele. Panzer auf dem iPad, Panzer im Fernsehen. Matratzen werden von oben nach unten getragen, an Schlafen ist nicht zu denken. Im Wohnzimmer liegen Munition und die Waffen auf dem Couchtisch. Ich bin in Sorge um die Menschen, die in Kiew sind.

Eingelegte Tomaten, Pelmeni, Vareniki, Nalistinki, Vodka. Hier fühle ich mich sicherer als im 8. Stockwerk in der Nähe des ukrainischen Geheimdienstes.

Alle warten mit Anspannung auf die Ansprache von Biden. Nicht der Rede wert.

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DialoguePerspectives is a great programme not only because of all the things you are going to learn during the seminars, not only because of the cool people you are going to meet but also because of the un-learning process that you will go through, getting rid of all the prejudices that you are not even aware of having.
 

Asmae, DialoguePerspectives participant

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