02. November 2020: Terroranschlag in Wien 2020

Ein Dossier von CPPD-Mitglied Tobias Herzberg

Am Abend des 2. November 2020 tötete ein Terrorist im Wiener Ausgehviertel „Bermudadreieck“ vier Menschen und verletzte 23 weitere teils schwer. Kurz vor 20 Uhr hatte der Täter begonnen, wahllos auf Zivilist:innen zu schießen. Die Gassen zwischen der Wiener Hauptsynagoge und der Ruprechtskirche am Schwedenplatz waren belebt, denn es war der letzte Abend, bevor ein zweiter landesweiter Corona-Lockdown Lokale und Clubs für Wochen schließen lassen würde.

Der Täter wurde durch Spezialkräfte der Polizei wenige Minuten nach dem Eingehen des ersten Notrufes erschossen. Stundenlang blieb unklar, ob er allein gehandelt hatte. Die Behörden gingen, verstärkt durch Gerüchte in den Sozialen Medien, zeitweise von mehreren bewaffneten Personen aus. Entwarnung wurde erst in den frühen Morgenstunden gegeben. Die Besucher:innen von Theatern, Kinos und Konzerten mussten in den Veranstaltungssälen bis in die Nacht ausharren, bevor sie von Einsatzkräften hinausgeleitet wurden. Auch ich befand mich im Burgtheater, an meinem damaligen Arbeitsplatz. Wir alle – Belegschaft und Publikum – wurden erst nach Mitternacht zur nächsten U-Bahn-Station eskortiert, von wo aus ein Sonderzug uns aus der Gefahrenzone Innenstadt beförderte.

In den Folgetagen wurden zahlreiche Details zum Attentäter und zum Tathergang bekannt, zum Beispiel, dass der Täter am Morgen vor der Tat auf Instagram ein Treuegelöbnis zum IS-Anführer Abu Ibrahim al-Qurashi gepostet hatte. Der IS reklamierte dann auch noch am Folgetag per Tweet die Tat für sich. Zudem stellte sich heraus, dass der Täter wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bereits vorbestraft war. Nur anderthalb Jahre vor dem Attentat war er zu 22 Monaten Haft verurteilt worden, da er versucht hatte, nach Syrien zu reisen, um sich dort dem IS anzuschließen. Aufgrund seines jugendlichen Alters wurde ein Großteil der Haftstrafe erlassen, so dass er sich seit Dezember 2019 wieder auf freiem Fuß befand . Obwohl dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung bekannt, war offenbar keine Überwachung erfolgt.

Auch Angaben zu den Todesopfern wurden öffentlich. Es handelte es sich um

  • Nedžib, einen 21-jährigen Maler aus Korneuburg, der an dem Abend mit Freunden ausgegangen war,
  • Vanessa, eine 24-jährige Kunststudentin aus Deutschland, die in einem Lokal als Kellnerin jobbte,
  • Gudrun, eine 44-jährige Angestellte eines Chemieunternehmens, die gerade ihre Arbeitsstätte verlassen wollte und
  • Qiang, einen 39-jährigen Restaurantbetreiber, der seine Gäste in Sicherheit zu bringen versuchte, als er selbst getroffen wurde.

In den Wochen nach der Terrornacht wurden potentielle Mittäter und Tathintergründe ermittelt. Dabei gerieten die staatlichen Stellen selbst teilweise massiv in die Kritik von Medien und Angehörigen sowie von Überlebenden des Anschlags. Hauptvorwürfe zielten auf Ermittlungsfehler und mangelnde Empathie mit den Betroffenen. Unter anderem wurde bemängelt, dass frühzeitig übermittelte Informationen der slowakischen Polizei über Versuche des späteren Täters, Waffen und Sprengstoff in der Slowakei zu kaufen, von den österreichischen Behörden nicht ernstgenommen wurden; dass trotz der bekannten IS-Nähe und entsprechender Vorstrafe des Täters keine Beobachtung durch den Verfassungsschutz gegeben war; dass die Ermittlungen in der Tatnacht selbst chaotisch und unkoordiniert abgelaufen waren; nicht zuletzt, dass die überlebenden Opfer und die Angehörigen der Getöteten emotional allein gelassen wurden und in Aussicht gestellte Hilfsgelder, etwa Entschädigungen für Behandlungs- und Überführungskosten, monatelang auf sich warten ließen.

Auch einige Boulevardmedien wurden für ihr Verhalten in der Terrornacht erheblich kritisiert. Tausende Beschwerden betrafen ServusTV und oe24. Die beiden Privatsender hatten Handyaufnahmen der Morde unverpixelt veröffentlicht und in der Tatnacht stundenlang wiederholt ausgestrahlt, wofür sie über ein Jahr später von der Medienbehörde KommAustria wegen Missachtung der Menschenwürde und Verstoßes gegen ethische Sorgfaltspflichten verurteilt wurden.

Innenminister Nehammer verteidigte die Behörden und sich selbst gegen sämtliche Vorwürfe. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zu den Ermittlungspannen kam in seinem Abschlussbericht ein Jahr nach dem Anschlag zu dem Schluss, dass es in mehreren Behörden zu Misskommunikation und Fehlverhalten gekommen war, dass jedoch keines der einzelnen Versäumnisse „allein kausal“ für das Ermittlungsversagen gewesen sei, weshalb die Tat nicht hätte verhindert werden können. Politische Konsequenzen fanden so nicht auf der personellen, sondern ausschließlich auf der institutionellen Ebene statt, da der Innenminister eine Strukturreform zur Neuordnung von Staatsschutz und Nachrichtendienst einleitete. Rücktrittsforderungen gegen seine Person, die nach der Veröffentlichung des Berichts im November 2021 vonseiten der Opposition laut geworden waren, wies Nehammer zurück. Stattdessen wurde er wenige Tage später im Zuge der österreichischen Regierungskrise um den unter Korruptionsvorwürfen zurückgetretenen Bundeskanzler Sebastian Kurz dessen Nachfolger.

Politisch unter Druck hatte Nehammer bereits unmittelbar nach dem Anschlag noch im November 2020 Ermittlungserfolge präsentieren wollen und ließ eine Reihe von Razzien gegen angebliche österreichische Mitglieder der Muslimbruderschaft und der Hamas durchführen. Die „Operation Luxor“ genannte Ermittlungsaktion gegen den „politischen Islam“ hinterließ in erster Linie verstörte Familien und traumatisierte Kinder; Gerichte erklärten die forcierten Haussuchungen im Nachgang für unrechtmäßig; von den Verdächtigen wurde niemand angeklagt. Eine Stigmatisierung des Islams und muslimischer sowie muslimisch gelesener Menschen in Österreich war und ist die Folge.

Kürzlich, am 18. Oktober 2022, knapp zwei Jahre nach der Terrornacht, startete ein Prozess gegen sechs mutmaßliche Mitwisser und Komplizen des Attentäters. Durch ihre Unterstützung soll er an Waffen und Munition gekommen und in seinen terroristischen Absichten bestärkt worden sein, so die Staatsanwaltschaft. Die Verteidiger weisen sämtliche Vorwürfe zurück. Erste Aussagen der Angeklagten sind für den 1. Dezember erwartet. Es sind 19 Verhandlungstage vorgesehen. Mit einem Urteil ist nicht vor Februar 2023 zu rechnen.

Die Hochschule, an der eines der Todesopfer studierte, die Universität für angewandte Kunst, ist seit einem Jahr mein neuer Arbeitsplatz. Die Angewandte, wie sie in Wien genannt wird, hat in Gedenken an die Verstorbene einen Preis begründet. Der Vanessa Preger-McGillivray-Preis wird seit 2021 jedes Jahr für eine Abschlussarbeit aus der Studienrichtung Bildende Kunst vergeben. „Dieser Preis ist uns Erinnerung an eine leidenschaftlich engagierte Studentin und Mahnung eingedenk des Schreckens dieser Terrornacht und ihrer Folgen. Er soll Absolvent:innen zu Gute kommen, ihr Potenzial sichtbar machen und ihnen Wertschätzung vermitteln“, so Rektor Gerald Bast. Am 2. November, dem zweiten Jahrestag des Attentats, wird die Universitätsgemeinschaft wie schon im letzten Jahr zusammenkommen, um einen Tag lang ein Gedenkfeuer zu hüten und so das Angedenken an Vanessa und die weiteren Opfer zu ehren und einander in Trauer beizustehen.

 

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˝Some wise person once wrote “The whole entire world is a very narrow bridge and the main thing is to have no fear at all.” I feel that thanks to DialoguePerspectives the world is becoming a network of interconnected bridges that we are building between each other together. Beautiful bridges thanks to which we can try to create a world together, a world free from prejudices and fear.

Anna, DialoguePerspectives participant

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